„Durchhalten, aber schnell! Die Zahlen stimmen, die Geier kreisen: Wie geht es eigentlich der Hamburger Schauspielhaus-Krise?“ Süddeutschen Zeitung, 2.März 2001
von Robin Detje
Stromberg rennt. Plötzliches Schneetreiben im Norden: Der Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg versucht, auf den 20 Metern zwischen der Theatertür und dem Eingang des Hotel „Reichshof“ unter allem hindurchzulaufen, was jetzt so überraschend auf ihn niedergeht. Kalt pfeift der Wind durch die Kirchenallee. Im Regen stehen, ohne nass zu werden, ach, wer diese Kunst beherrschte! Tom Stromberg bleibt sicherheitshalber in Bewegung. Mit dem Reporter will er nicht in seinem Büro sprechen, sondern in der Hotelhalle nebenan, an seinem Lieblingstisch aus der Zeit als Durchreisender. Dort wird er sagen, dass er bleiben will, egal, wie hart man ihn kritisiert. Auf dem Weg ins Hotel aber rennt er, so mächtig zieht es ihn aus dem Theater hinaus. Und der Reporter muss ihm nachlaufen. Keiner bleibt so schnell wie Stromberg. Hier ist einer entschlossen, sich ins Aussitzen zu flüchten. Gleich am Eröffnungsabend seiner Intendanz, spät in der Nacht des 29. September, hatte man zum ersten Mal seinen Kopf gefordert: Die Premiere der Jérôme-Bel-Choreographie „The show must go on“ löste einen astreinen Theatertumult aus. Manchmal stand das Schauspielhaus-Ensemble minutenlang bloß da und sah die Zuschauer an, oder es tanzte, kunstlos und für sich, wie in der Disco. Dafür hatten die Premierenbesucher kein Verständnis. Die Stimmung kochte über. Es gab Zuschauer, die mitzutanzen begannen, aus Spaß oder weil sie zum Ausdruck bringen wollten, dass sie sich unterfordert fühlten. Und es gab Zuschauer, die lauthals Strombergs Entlassung forderten oder sein sofortiges Erscheinen auf der Bühne, vielleicht zur weiteren erkennungsdienstlichen Behandlung. Er blieb in seiner Loge, klugerweise. An der Alster kann man die Menschen schnell brüskieren. Wie die Korsen bei Asterix sind die Hamburger vor allem leicht beleidigt. Man gibt sich traditionell zugeknöpft, aber die kalte Schulter zeigt man Zugereisten wirklich gern. Es sieht nicht so aus, als sei Tom Stromberg auf die erotischen Vorlieben dieser Gegend irgendwie vorbereitet gewesen. Er scheint fröhlich in kurzen Hosen in die Hansestadt gestapft zu sein, wie ein Kind, dass mit einem bunten Eimer voller Spielzeug in die Sandkiste steigt und sich dann wundert, dass die anderen trotzdem nicht mit ihm spielen wollen. Auch wie ein cholerisches Kind, das keinen Widerspruch gegen das eigene Grandiositätsversprechen duldet. Als neuer Chef der Sandkiste verfolgt Stromberg eine reine Angebotspolitik, das aber mit viel Emphase. Die Nachfrage ist nicht seine Sache, dafür ist das Publikum verantwortlich, und wenn man ihn angreift, verweist er darauf, dass sein Spielzeugeimer noch immer randvoll ist.
Mehr Theaterwagen! In der vergangenen Woche ist aus der Kritik an Stromberg eine Art Kesseltreiben geworden. Die Journalisten hatten beschlossen, das Schicksal des Intendanten eigenmächtig an der Premiere von Schnitzlers „Reigen“ zu entscheiden. Zehn meist junge Regisseure hatten die Szenen inszeniert, jeder eine. Aus dem Abend wurde ein mittleres Vergnügen mit ein paar Glanzlichtern, über das man sich auch ärgern konnte, aber durchaus nicht musste. Diesmal jedoch wurde kein Pardon gegeben, und bundesweit fiel der Hammer. Ein Großkritiker stellte gleich die Subventionen für Stromberg in Frage, ein etwas kleinerer riet ihm freundschaftlich, seinen „Selbstabschuss“ zu vermeiden, um von den eigenen Abschussgelüsten abzulenken. Wer alles auf einmal las, konnte die gesamte Rezensentenzunft im Blutrausch erleben; sich selbst in einen Zustand höherer Selbstgerechtigkeit erhebend und jedes Maß verlierend. Begonnen hatte die Hatz schon mit dem plötzlichen Rücktritt des kaufmännischen Geschäftsführers Peter F. Raddatz, „aus persönlichen Gründen“, die er nie erläutert hat. Manche sprechen von einem besseren Angebot aus Deutschlands Süden, andere vermuten, dass er den Weggang von Strombergs Vorgänger nicht verwinden konnte, dessen Namen in der Hansestadt inzwischen ein überirdisches Leuchten angenommen hat und der der beste Intendant aller Zeiten gewesen sein muss; Raddatz sagt dazu nichts mehr. Jedenfalls wollte die Presse seine außerordentliche Kündigung ohne Konsultierung des Aufsichtsrats unbedingt als Menetekel verstehen. Die Brücke des vielleicht dümpelnden, aber keinesfalls sinkenden Theaterdampfers wurde plötzlich von Theaterkritikern gestürmt; sie trugen Kapitänsuniformen und gaben das Kommando „Alle Mann von Bord“.
Vor dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg hat Tom Stromberg das Frankfurter Theater am Turm geleitet, einen schnittigen, international vernetzten Experimentierbetrieb. Danach hat er als Kulturchef der Hannoveraner Expo unter anderem Peter Steins „Faust“ produziert. Er ist vierzig Jahre alt und steht im Ruf, sich gut anzuziehen. Er hat seine eigene Homepage und läuft überall mit einer beträchtlichen Bugwelle ein. Von Betrieben, die er übernimmt, erwartet er offenbar, dass sie sich ihm bei seinem Eintreffen schon ergeben haben. Auch wenn er oft von seinem Vater, dem braven Stadttheater-Intendanten spricht (Wilhelmshaven! Augsburg! Trier!), fehlt ihm jener Stallgeruch, der die im Zunftwesen verharrende Branche beruhigen könnte. Sein Verständnis vom Theaterbetrieb ist völlig betriebsfremd: der moderne Strombergsche Theaterapparat ist kein Familienbetrieb mehr. Es verfügt über Steckplätze für Gastspiele, Gastschauspieler, Gastregisseure und internationale Koproduktionen, die wie Zusatzmodule hineingeschoben und wieder entfernt werden können, bevor die Kosten explodieren. Das sind alles beunruhigende Ideen aus dem 20., und nicht, wie es sich am Theater gehört, aus dem 19. Jahrhundert. In einem großen, traditionsreichen Haus, das seinen Chef als schützenden Hausvater begreift, wütet er hyperaktiv herum, nervös und ungeduldig. Er hat einen Sitzjob, aber Stromberg rennt. Inzwischen wirft die Hamburger Morgenpost dem neuen Schauspielhaus-Intendanten vor, dass er einen Dienstwagen benutzt, in dem der alte Schauspielhaus-Intendant sich auch schon spazieren fahren lassen durfte. Aber auch wenn hier offensichtlich irgendeine Art von Irrsinn ausgebrochen ist, scheint Stromberg mit diesem Irrsinn nicht umgehen zu wollen oder zu können. Dabei ist dies wahrscheinlich ein für seine Position durchaus typischer Irrsinn, mit dem umzugehen er irgendwie verpflichtet wäre. Und noch dazu ein Irrsinn, den er mit heraufbeschworen hat als einer, der sich weigert, mit den Irritationen umzugehen, die er auslöst. Man muss den Kampf um Stromberg ästhetisch und machtpolitisch einordnen. Seit seiner Zeit am TAT ist er der immer auch ambitionierte Impressario einer Regiegeneration gewesen, die, im Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft mit schwerem theoretischen Überbau versehen, in den vergangenen Jahren mit Traditionsreichen „neuen Formen“ und viel Ehrgeiz am Theater einmarschiert ist. Neue Formen! In Theaterdeutschland ist jüngst gegen die bösen älteren Posteninhaber und Pfostensitzer unter großen Mühen durchgesetzt worden, dass Theaterfiguren aussehendürfen wie junge Clubber in den Chill- out-Zonen von Berlin-Mitte heutzutage aussehen. Die Dekorationsrevolution des deutschen Theaters war erfolgreich, und auf ihren schicken Barrikaden wurde manche Karriere gemacht, worum es letztendlich ja auch ging: Die Eroberung der Jugendkultur durch die Junge Union hat vielen jungen Künstlern viele wirtschaftliche Vorteile gebracht. Die Bühnenhelden singen jetzt zur backstage stets griffbereiten Gitarre die Lieblingslieder ihrer Regisseure, und sie tragen deren teure neue Kleider. Dem jungen Publikum wird es die Identifikation mit den Bühnenfiguren sicher erleichtern, wenn auf der Bühne und im Zuschauerraum alle denselben Musik-und Klamottengeschmack demonstrieren. So möchte man diesseits und jenseits der Rampe in seliger Verschmelzung sitzen und sich gegenseitig für das Verständnis applaudieren, das man einander als Generation entgegenbringt.
Stefan Puchers Inszenierung von Tschechows „Möwe“ ist ein Musterbeispiel für diese Ästhetik; im Schauspielhaus gilt sie als das bisher am besten gelungene der vielen geplanten Experimente. Das uralte Selbstmitleid des suizidalen Jungregisseurs Kostja wird aller historischen und sozialen Bezüge beraubt, um ihn vor Videogroßleinwänden zum Märtyrer der eigenen Slacker-Generation stilisieren zu können, wobei die Schauspieler gern nebeneinander stehen und ins Publikum sprechen. Das nützt Tschechow nichts, schadet aber andererseits auch niemandem und sieht modern aus.
Lasst alle Hofffnung fahren! An vielen großen Häusern wird schlechteres Theater mit größerem Erfolg gezeigt; sie haben anschmiegsamere Intendanten. Deshalb hat sich der Kritiker der Woche als Vertreter der enttäuschten Slacker gegen den Verräter Stromberg gewandt, der „mit schwer fiebrigem Jugendwahn seiner Sache einen Bärendienst erwiesen habe und „Hoffnungsträger wie Fahrschüler aussehen“ lasse. Die älteren Kritiker dagegen wittern den Untergang des Abendlandes, weil sie „richtige Menschen“ auf der Bühne sehen und den guten alten Kantinengeruch schnuppern wollen. Zwischen diesen Fronten steht Stromberg und wundert sich. Der Intendant will durchhalten, er hat einen Fünf-Jahres-Vertrag. Die Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss will durchhalten, um, wie sie glaubhaft versichert, die Theaterkunst voranzubringen. Sie will durchhalten, so lange die Zahlen stimmen, und die Zahlen stimmen noch, sagt sie. Als Aufsichtsratsvorsitzende der Schauspielhaus-GmbH muss sie es wissen. Aber wie man das macht – im Voranstürmen auszuharren, und zwar ohne wirklich auf den Begriff bringen zu können, wohin es gehen soll in einer ziemlich dicken Hamburger Nebelsuppe also -, ist allen Beteiligten noch unklar. Der Intendant hat zumindest angekündigt, einen Chefdramaturgen einzustellen. Die neue „Torbar“, mit der Stromberg in einer gastronomischen Charme-Offensive neben dem Schauspielhaus einen Durchgang zwischen Kirchenallee und Parkhaus blockieren lassen hat, wird übrigens gut angenommen. Junge Menschen sitzen dort und trinken; ältere kommen vorne rein und gehen hinten wieder raus, egal wie kalt dann drinnen der Wind pfeift. Das ist die Hamburger Art mit dem Neuen umzugehen: Man lässt sich auf keinen Fall den gewohnten Weg zum geparkten Wagen verstellen.
Süddeutsche Zeitung, 2. März 2001