„TAT TOT“ JOURNAL Frankfurt, Ausgabe 10/04
Nach fünfzig Jahren schafft die Stadt Frankfurt das traditions- und erfolgreichste Experimentierfeld für neue Theaterformen ab. Ein Blick zurück
VON FLORIAN MALZACHER
Nun also ist es so weit, diesmal wohl endgültig: Ende Mai wird das TAT, eines der international bekanntesten Theater Deutschlands, geschlossen – und kaum einer nimmt das noch zur Kenntnis. Über Jahre hinweg dauerte das schleichende Sterben, mehrere städtische Schließungsversuche und ein kontinuierliches Eindampfen der Zuschüsse hatten dem Haus sehr langsam die Luft abgedrückt. Dabei waren gerade drei Jahre zuvor die jungen Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster noch explizit als Wiederbelebungsstrategie ins Rennen geschickt worden. Doch als Regisseure saßen sie zwischen allen Stühlen: den klassischen Abonnenten zu wenig werktreu, vielen alten TAT-Anhängern zu brav und zu solide. Wirklich in Frankfurt angekommen sind sie nie. Stadttheater mit anderen Mitteln, das war einfach die falsche Lösung für das TAT, das schließlich weniger ein Haus war (zweimal ist es insgesamt umgezogen) als eine Idee, eine Behauptung, eine Forderung. Oder besser: viele Ideen, Behauptungen, Forderungen, die aber immer gegen das Stadttheater zielten, gegen die Konvention, gegen das Establishment.
Dieser kleinste gemeinsame Nenner galt schon, als 1953 der TAT-Vorgänger „Landesbühne Rhein-Main“ aus der ältesten deutschen Wanderbühne hervorging: Als Teil des Frankfurter Bundes für Volksbildung sah man sich in der Tradition der Arbeiterbildung und verstand sich so als Gegenentwurf zu den bourgeoisen Städtischen Bühnen.
Zehn Jahre später zog das Theater ins Volksbildungszentrum am Eschenheimer Turm, in dem heute das Metropolis-Kino ist. 1965 dann: Auftritt Claus Peymann. Peymann richtete die Bühne nicht nur auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft aus, sondern gab ihr auch den neuen Namen: Theater am Turm. 1966 inszenierte er die legendäre Skandal-Uraufführung von Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, zwei Jahre später dann den „Kaspar Hauser“ als eine „große Demonstration gegen die Notstandsgesetze“, wie sich Karlheinz Braun, damaliger Theaterlektor des Suhrkamp Verlags erinnert. Die Nähe zur Straße, zur Studentenbewegung war der Motor fürs Spielen; der Mythos weiß von Schauspielern, die sich morgens mit der Polizei prügelten und abends auf der Bühne standen. Auch die erste „Experimenta“ fand 1966 statt, von Peter Iden und Karlheinz Braun ins Leben gerufen. Noch so eine TAT-Legende: Beuys mit Schimmel (1969) bei der Performance „Titus/Iphigenie“ zum Buh- und Bravo-Konzert der Zuschauer.
1969 zog Peymann von dannen. Am TAT stand jetzt Mitbestimmung auf dem Programm. Diskussionen, Vollversammlungen, Marxismus- und Tai-Chi-Kurse. Rainer Werner Fassbinder kam ans Haus – und ging wieder nach nur acht Monaten. Die Diskussion um sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ waren der Auslöser des Abgangs – wahrscheinlich aber hatte er es auf den Rauswurf angelegt, um sich wieder mehr um seine Filme kümmern zu können.
Auch die folgenden Jahre waren wechselhaft und streitbar, aber weniger Legendenfutter. Ein Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater wurde gesetzt; politisch engagiert blieb man gleichwohl, und so verfügte die Frankfurter CDU 1978/79 die Schließung des unbequemen Hauses wegen „unerfüllbarer Mitbestimmungsforderungen“ und „künstlerische Defizite“. Diese Schließung blieb temporär. Das TAT wurde umgebaut und 1980 wieder eröffnet: Als Theater ohne festes Ensemble – so wollte der Magistrat Radikalität und strukturelle Macht verhindern. Das Theater wurde zu einer Spielstätte für freie experimentelle Gruppen und Künstler nach internationalem Vorbild. Mit Vorstellungen wie jenen der Tanzcompany Vivienne Newport und Programmen wie „Cage wird 70“ in Anwesenheit des Komponisten fand das TAT ein neues, ganz eigenes Publikum.
Die wirklich neue Ära aber brach an, als Tom Stromberg 1986 unter dem Intendanten Christoph Vitali als Dramaturg nach Frankfurt kam. Nun prägten internationale Gastspiel- und Eigenproduktionen das Programm: Elke Lang wurde mit ihren Inszenierungen zur „Seele des TAT“, die belgischen Regisseure Jan Fahre und Jan Lauwers brachten einen völlig neuen Theaterton nach Deutschland, und Heiner Goebbels‘ am TAT entstandene Produktionen wie das Heiner-Müller-Requiem „Schwarz auf Weiß“ touren bis heute erfolgreich durch alle Welt. Den Choreographen Saburo Teshigawara entdeckten Lang und Stromberg auf einer kleinen Bühne in London. Die Wooster Group und Reza Abdoh beeinflussten eine Generation junger, experimenteller Theaterleute.
Es wurde nicht nur nach Frankfurt geholt, was andernorts an Neuem entstand, vor allem wurde es auch ermöglicht: Ein internationales Produzenten-Netzwerk entstand, das bis heute fortwirkt. Und: Das TAT wurde zu einer Werkstätte für junge Regisseure außerhalb der ästhetischen Grenzen des Stadttheaters. Die Probebühne „Daimlerstraße“ als Labor, Werkstatt und Experimentierbühne war für Künstler wie Stefan Pucher, Rene Pollesch, Gob Squad oder Helgard Haug und Daniel Wetzel (in diesem Jahr zusammen mit Stefan Kaegi unter dem Label „Rimini Protokoll“ beim Theatertreffen) Schauplatz erster öffentlicher Schritte.
1995 zog das TAT nach einunddreißig Jahren im Volksbildungsheim am Eschenheimer Turm an einen anderen Turm: den Bockenheimer. In der alten, räumlich wunderbaren, aber schwer zu bespielenden Straßenbahnhalle aus Holz, Glas und Eisen versuchte die Crew um Stromberg – und als Sparte in die Städtischen Bühnen eingegliedert – das Programm fortzusetzen. Ein Versuch der Oberbürgermeisterin, das TAT zu schließen, war vor allem am internationalen Protest gescheitert. Aber der finanzielle Druck war groß wie nie. 1996 warf Tom Stromberg das Handtuch.
Keine leichte Aufgabe, ein solches Haus zu bespielen. Kühnel und Schuster versuchten es, eingesetzt vom neuen Intendanten William Forsythe nach drei Jahren TAT-Gemischtwarenladen, mit Aplomb und einem Manifest: Per Sonderausgabe des JOURNAL FRANKFURT grenzten sie sich apodiktisch von allem ab, wofür das TAT bisher stand – vom politischen Theater der 68er ebenso wie von den Avantgarden der Achtzigerjahre inklusive ihrer postdramatischen Nachfolger. Doch ein emotionales Verhältnis zu Frankfurt konnten sie nie aufbauen – es blieb ein Gefühl der Distanz auf beiden Seiten der Rampe. Auch wenn sich Zuschauerzahlen stabilisierten, isolierte sich das Haus ästhetisch und politisch mehr und mehr: Als die Demissionierung Kühnels und Schusters und dann der Schließungsbescheid kamen, stand das Haus weitgehend allein. Im Zuge der Schließungsdiskussionen um das Ballett Frankfurt und den Rauswurf Forsythes als Intendant war das TAT zum Bauernopfer geworden, das die Intendanten der Städtischen Bühnen leider allzu schnell zu opfern bereit waren. Dabei: Wie nötig hätte die Stadt, hätte das Land, hätte aber auch das Internationale Koproduktionsnetzwerk nach wie vor ein solches Haus. Für internationale, große Gastspiele – aber vor allem auch für die avancierte Suche nach anderen Wegen. Für einen Möglichkeitsraum. Vielleicht am meisten aber fehlt ein Werkstattraum für experimentelles Theater als Diskurs. Eine „Daimlerstraße“.
So politisch ungeschickt er in mancher Hinsicht im Dienste des TAT agierte, so künstlerisch schlau zeigte William Forsythe allerdings in den verbliebenen zwei Rumpfspielzeiten von je nur vier, fünf Monaten im vergangenen und diesem Jahr, was der Stadt verloren geht: Gemeinsam mit dem Architekten Nikolaus Hirsch gestaltete er das Bockenheimer Depot zu einer flexiblen Filzlandschaft mit angeschlossener Bühne um. Erst unter seiner eigenen, dann unter der künstlerischen Leitung der Kuratorin Louise Neri entstand ein disparater, bunter, zuweilen auch kruder und manchmal unplausibler Spielplan aus Theater, Tanz, Kunst, Film, Musik, Diskurs – und bevorzugt: allem auf einmal.
Eine Mischung aus lokalen Gruppen und internationalen Szenegrößen bestimmt auch die letzten Tage des TAT: Die Innenstadtgruppe setzt ihre urbanen Interventionen „5 qm stadtverschiebung“ ebenso fort wie Felicia Herrschaft ihren sonntäglichen Radioworkshop und Unfriendly Takeover ihre Salonreihe. Dazu gibt’s ein paar direkte Verbindungslinien zu früheren TAT-Zeiten: Robert Schuster zeigt seine Inszenierung „Gyges und sein Ring“, und Vivienne Newport, deren Name unbedingt zum Theater am Turm gehört, seit sie mit ihrer Tanzcompany bereits in den Achtzigerjahren hier auftrat, hat sich für „City of Culture“ mit Jo Ann Endicott und Jeremy Deller zusammengetan: Versprochen ist ein Theaterprojekt mit 85 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Auch Heike Scharpffs Performance mit Obdachlosen „Besitznichtbesitz“ weitet den Blick über den Bühnenrand hinaus in die Stadt. Das letzte Wort hat dann „For Urbanities“ der Frankfurter Gruppe „Andcompany & Co“… und dann ist Ruh im TAT.
JOURNAL Frankfurt, Ausgabe 10/04