„I did it my way“ Theater der Zeit, Heft 6/2005
VON HELLA KEMPER
Tom Stromberg verabschiedet sich nach fünf bewegten Jahren vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Der schwarz angemalte Schlacks rast über die Kirchenallee – vom Hauptbahnhof wabern Klassikfetzen herüber, und Othello, der Andere, der Außenseiter, der Titelheld aus Stefan Puchers zum Theatertreffen 2005 eingeladener Shakespeare-Inszenierung wirft sein Seidenmäntelchen ab und flitzt nackig in die Dönerbude an der Ecke. Verweile doch! Du bist so schön, Alexander Scheer, mit dir hielt der Erfolg am größten deutschen Sprechtheater Einzug, mit dir nahm die Ära Stromberg dann doch noch ein gutes Ende und schaffte ein dem Haus gebühren-des Finale. Mit Beginn der fünften und letzten Spielzeit guckten alle wieder auf und in das renommierte Haus an der Kirchenallee. Doch früher schon, aber von vielen gemieden oder ignoriert, hatte der Baumbauer-Nachfolger nach drei Jahren künstlerischen und wirtschaftlichen Misserfolgs die Wende geschafft – nachdem er weite Teile des Publikums, Mitarbeiter, Politiker und Kritiker erst mal kräftig vor den Kopf gestoßen hatte.
Ein erfolgreiches Haus zu übernehmen ist grundsätzlich eine Herausforderung, und das Baumbauer-Erbe wog tonnenschwer auf Tom Strombergs selbstbewussten Schultern, während sein Vorgänger in der bayerischen Metropole an den Kammerspielen ebenfalls den steinigen Weg eines Neuanfangs ging. Tom Stromberg hat im Spätsommer 2000 so ziemlich alles richtig und so ziemlich alles falsch gemacht, was man richtig und falsch machen kann, wenn man als neuer Intendant antritt.
Nach zehn Jahren als Dramaturg, Chefdramaturg und Intendant am Frankfurter TAT, nach vier Jahren als Künstlerischer Leiter des Kultur- und Ereignisprogramms der Expo Hannover startete Stromberg am Schauspielhaus mit einem Hut voller Ideen, die so neu nicht waren, aber vielleicht doch neu fürs Deutsche Schauspielhaus: kleines Ensemble, viele (auch internationale) Gäste, viele Spielstätten, viel Kommunikation, viele Orte der Begegnung, interdisziplinäres und experimentelles Arbeiten, ein bisschen Szene-Musik-Trash und vor allem: zeitgenössische Autoren und junge hoffnungsvolle Regisseure. Einer dieser Jun-gen war Jan Bosse. Der damals 30-Jährige inszenierte die Spielzeiteröffnung, die erste Premiere unter dem neuen Intendanten, das Auftragsstück „Haltestelle. Geister“ von Helmut Krausser, und die Kritiken fielen – zu Recht – äußerst mäßig aus. Damit hatten weder Stromberg noch sein junger Regisseur gerechnet. Als dann noch spät in der Nacht Jérôme Bels Tanztheater-Uraufführung „The show must go on“ gnadenlos ausgepfiffen wurde, schlich ein geknickter Tom Stromberg an seinen Schreibtisch, vielleicht um einen Whiskey zu kippen oder eine Zigarre zu rauchen, und wurde von einer bösen Botschaft, die an seiner Bürotür klebte, begrüßt: „Go home Stromberg!“ Ein bitterer Anfang.
Stromberg aber blieb sich und seinem Konzept zunächst treu.
Das zeichnet ihn aus. Das machte ihm das Intendantenleben schwerer, brachte aber letztendlich auch die Anerkennung, künstlerisch wie wirtschaftlich. Tom Stromberg bewies Stehvermögen. Er hielt bis zum Ende seiner Intendanz an seinen jungen Regisseuren fest: an Jan Bosse, René Pollesch, Stefan Pucher,
Ingrid Lausund, Sebastian Hartmann. Und genau diese Leute – Hartmann ausgenommen – brachten von der ersten Spielzeit an eine dringend notwendige Kontinuität durch Inszenierungen, die einerseits (Lausund und Pollesch) ein junges Schauspiel-haus-Publikum ansprachen und andererseits (Pucher und Bosse) die großen Zuschauererfolge zum Ende hin einbrachten; auch ein Grenzgänger wie Jan Lauwers oder der Altmeister Jür-gen Gosch waren von der ersten bzw. zweiten Spielzeit an dabei. Gosch inszenierte auch die letzte – vom Publikum umjubelte – große Premiere der Stromberg-Intendanz: die Uraufführung von Yasmina Rezas „Ein spanisches Stück“; ein zuckriges Sahnehäubchen der angeblich meistgespielten und wohl auch meistüberschätzten Dramatikerin der Welt; ein Schenkelklopfer-Stück über Theater im Theater. Gosch ließ seinen großartigen Schau-pielern – allen voran Thomas Dannemann und Wiebke Puls – freien Lauf, ihnen konnte er sorglos dieses banale Stück über ein Familientreffen zumuten, ohne dass die trivialen Versatzstücke peinlich zu werden drohten. Dass Stromberg in seiner ersten Spielzeit dieses oder ein anderes Reza-Stück auf den Spielplan genommen hätte, kann man sich kaum vorstellen; aber genau das ist der Grund für seinen anfänglichen Miss- und späteren Erfolg.
Mit den jungen Autoren hatte Stromberg kein großes Glück.
Roland Schimmelpfennig schreibt nicht uninteressant und for-mal recht experimentell, Selfmademan René Pollesch politisch engagiert, aber Strombergs Kollege ein paar Meter weiter, Thalia-Intendant Ulrich Khuon, bewies mit Moritz Rinke, Dea Loher, Fritz Kater und Lukas Bärfuss das glücklichere Dramatiker-Händchen. Ulrich Khuon, der zur gleichen Zeit wie Stromberg aus Hannover kommend sein neues Amt antrat, hatte gleich zum Start große Inszenierungen wie Franz Molnárs „Liliom“ (Regie Michael Thalheimer), das Fräuleinwunder Fritzi Haberlandt und Einladungen zum Theatertreffen. Was Stromberg nicht gelang, flog Khuon scheinbar zu. „Prinzipiell war es nicht glücklich, zwei Intendanten nach Hamburg zu holen, die zumindest, was die
Autoren betrifft, eine ähnliche Ausrichtung haben“, sagt Stromberg in einem rückblickenden Gespräch, „es wäre besser gewe-sen, wenn das Thalia wirklich ein biederer, konventioneller, abonnentenfreundlicher Apparat geblieben wäre. Das hätte es uns leichter in der Abgrenzung gemacht.“ Trotzdem: Der Wett-streit mit Ulrich Khuon sei sehr fair gewesen. „Khuon hat immer schon gesagt, es wird sich am Ende umdrehen, und das hat er nicht aus Koketterie behauptet.“ Und so war es dann auch: Mit dem einsetzenden Erfolg des Schauspielhauses in der Spielzeit 2003/04 geriet das Thalia-Theater ins Abseits der Wahrnehmung. Nicht weil es jetzt schlechtere Arbeiten ablieferte, aber die Aufmerksamkeit verschob sich, und die Fräuleins von der Kirchenallee rückten ins Rampenlicht: Mira Bartuschek, Jana Schulz, Maja Schöne, Wiebke Puls, Christiane von Poelnitz. Die wollte das Publikum jetzt sehen: als Lottchen und Gretchen, als Ophelia und Julia, singend und tanzend. Außerdem holte Tom Stromberg junge Filmstars ans Haus: Devid Striesow – manche Mädchen im Parkett weinen tatsächlich, wenn er als Posa von Philipp Gedankenfreiheit fordert und für seine politischen Ideale in den Tod geht. Wenn er als Woyzeck trotzig die Mundwinkel nach unten zieht. Oder August Diehl als Karlos, dieser zarte Jüngling, den die weiblichen Fans anhimmeln, wenn er mit Tränen in den Augen gegen den übermächtigen Vater und König
(gespielt von seinem eigenen Vater Hans Diehl) kämpft. Oder Robert Stadlober als süßer Romeo. Stromberg wehrt sich dagegen, nur Namen geholt zu haben; manch prominenter Name arbeitete von Anfang an bei ihm: Mit Alexander Scheer hatte Stefan Pucher bereits die „Möwe“ gemacht, eine aufregend-lebendige, inspirierte Inszenierung aus der ersten Spielzeit. Mit Wolfram Koch hatte Jan Bosse in der zweiten Spielzeit schon in „Clavigo“ gearbeitet, Jürgen Gosch mit Wiebke Puls in Roland Schimmelpfennigs „Push-Up 1 –3/Vor langer Zeit im Mai“. „Die Kombinationen wurden besser“, sagt Stromberg, „wir mussten erst lernen, welcher Regisseur zu welchem Schauspieler passt.“ Und so wuchsen kongeniale Paare heran: Joachim Meyerhoff/Jan Bosse, Thomas Dannemann/Jürgen Gosch, Bernd Moss/Ingrid Lausund, Alexander Scheer/Stefan Pucher, Devid Striesow/Laurent Chétouane, Catrin Striebeck und Caroline Peters/René Pollesch.
Diese zarten Pflanzen aber gingen unter einem struppig wuchernden Wildwuchs zunächst unbemerkt auf: Weil Tom Stromberg viel zu lange immer nur von sich reden machte, weil viele Journalisten gar nicht gut auf ihn zu sprechen waren, weil die lo-kale Presse mit ihm, dem Extrovertierten und Rechthaber, ins Gericht ging und weil er sich in einen aussichtslosen Kampf mit der peinlich inkompetenten Kultursenatorin und Christina-Weiss-Nachfolgerin, Dana Horáková, die ihr Amt im Februar 2002 antrat, verwickelte. „Die erste Begegnung mit ihr, die nichts gesehen und irgendwelche Klischees von Theater im Kopf hatte, war hanebüchen, ein Albtraum“, erinnert sich Stromberg, „nach einer halben Stunde wusste ich: Hier sitzt ein Feind, der als solcher aber nicht ernst zu nehmen ist.“
Aber auch Besucherzahlen und Auslastung waren bis zur dritten Spielzeit niedrig, weshalb die Baumbauer-Rücklagen (2,3 Mio. EUR) schon in den ersten beiden Spielzeiten aufgezehrt waren (bei einem Gesamtetat von rund 21,5 Mio. EUR, davon staat-licher Zuschuss 18,5 Mio. EUR) und das Haus bald in die Miesen schlitterte. So musste das Neue Cinema geschlossen werden, also die Bühne, auf der Stromberg versucht hatte, experimentelle (Off-)Theaterformen zu installieren. Er konzentrierte sich jetzt mehr auf den Malersaal, wo von Anfang an gute, aber nicht so gepushte Inszenierungen zu sehen gewesen waren.
Auch bei der Personalführung tat sich Stromberg schwer. Seine 400 Mitarbeiter polarisierte er anfangs: Einerseits kann er enorm begeistern und für sich einnehmen, andererseits Menschen rüde verletzen. „Ich bin einfach wahnsinnig ungeduldig. Ich habe nicht die Ruhe für ausführliche Besprechungen. Ich muss-teerst kapieren, dass es Leute im Haus gibt, die toll zimmern oder schlossern können, aber einige von ihnen dann um 16 Uhr nach Hause gehen und die besten Schauspieler der Welt niemals in ihrer gebauten Arbeit spielen sehen.“ Geschäftsführer Peter F. Raddatz warf im Januar 2001 das Handtuch und ging später nach
Köln. Bis Juni 2002 verließen weitere Mitarbeiter in Schlüsselpositionen das Haus: Chefdramaturg Andreas Beck ging an die Burg nach Wien, Betriebsbürochefin Katrin Nikel flüchtete nach Zürich zu Marthaler, Pressesprecherin Bettina Birk hielt den rü-den Umgangston nicht mehr aus, und der Technische Direktor Eberhard Bothe behauptete, in den Ruhestand zu gehen, trat aber tatsächlich eine Stelle bei Baumbauer in München an.
Kultursenatorin Christina Weiss, die Tom Stromberg nach Hamburg geholt hatte, hielt nach der ersten Spielzeit noch zu ihm. Es waren zwar nur 162.000 Zuschauer gekommen und die Platzausnutzung mittelschlecht, obwohl es seit dem Parkettumbau für „Schlachten“ nur noch 900 anstelle der ursprünglich 1.200 Sitzplätze gab. Stromberg beharrte darauf, alles richtig zu machen, und bespielte weiter eifrig die Peripherie, vergaß das Zentrum, die große Bühne: In der ersten Spielzeit gab es dort gerade mal sieben Premieren – und das ohne Übernahmen von Baumbauer. Heute sagt er: „Die Entscheidung, die große Bühne wichtiger zu nehmen, war sicher ein Lernprozess.“ Das Haus steckte in der Krise, die Ersten forderten eine Ablösung Strombergs. „Ich hatte in den ersten Jahren verlernt, meiner Intuition zu vertrauen.“
Dann kam Jack Kurfess im Februar 2001 als neuer Geschäftsführer, Michael Eberth kurz darauf als neuer Chefdramaturg. „Er war für mich unglaublich wichtig, weil ich in der Dramaturgie nicht wirklich einen Gesprächspartner gehabt hatte. Mein Versuch, eine junge Dramaturgie ohne Zentrum zusammenzustellen, hatte nicht geklappt“, erzählt Stromberg, „mit Eberth hatte ich dann jemanden, mit dem ich ausführlich reden konnte. Unvermeidlich war, dass damit andere aus dem Vertrauensfeld des Intendanten herausfielen.“
Mit unerschütterlicher Verve ging Stromberg in die zweite Spielzeit: jetzt mit neun Premieren auf der großen Bühne, dreißig Produktionen insgesamt, davon zwölf Erst- oder Uraufführungen, mehr Klassiker. Er wurde bescheidener, gestand Kommunikationsprobleme ein. Aus dem großkotzigen Kulturmanager wurde ein charmanter Intendant, der zuallererst an die Schauspieler dachte. Dann an die Regisseure, dann an die Zu-schauer. Und dann an sich. Die Zuschauerzahlen stiegen, in der zweiten Spielzeit kamen 175.000.
Dann, endlich, in der dritten Spielzeit: ästhetisch überzeugende Inszenierungen: Jetzt glänzte Jan Bosse mit seiner Saisoneröffnung „Der Menschenfeind“, Edgar Selge und Christiane von Poelnitz spielten in den Hauptrollen selbstsicher und sensibel zugleich; Schimmelpfennigs „Vorher/Nachher“ (Regie Jürgen Gosch), Tschechows „Platonow“ (Regie Sebastian Hart-mann), Ingrid Lausunds „Konfetti“ – alles gelungene Premieren, aber außerhalb des Theaters brodelte es weiter. Im Dezember 2002 – auf dem Höhepunkt des Stromberg-Horáková-Gezänkes – erklärte sich der Betriebsrat in einem Offenen Brief solidarisch mit seinem Chef, und Stromberg trat die Flucht nach vorn an, provozierte mit seinem Angebot, drei weitere Jahre Intendant bleiben zu wollen. Die Kultursenatorin, die sich selbst immer mehr ins Abseits manövrierte, musste reagieren, favorisierte Matthias Hartmann als Nachfolger. Sie machte keinen Hehl mehr daraus, Stromberg loswerden zu wollen, und wechselte vor der entscheidenden Sitzung Mitglieder des Aufsichtsrates des Schauspielhauses aus – ein schlechter Stil. Währenddessen forderte Hamburgs rechtspopulistischer Innensenator Ronald Schill sogar die Schließung des Deutschen Schauspielhauses.
Damit war der Gipfel der Lächerlichkeit erreicht, die Theaterrepublik lachte Hamburg aus.
Friedrich Schirmer wurde als Nachfolger gekürt, Tom Stromberg versprach noch zwei Jahre „Wahnsinn“, und die vierte Spielzeit konnte beginnen – und die hatte es in sich: zwölf Premieren auf der großen Bühne; und fast jede ein Höhepunkt, allen voran der Publikumsrenner „Romeo und Julia“ (Regie Nils Daniel Finckh), Bosses eigenwilliger, viel zu wenig goutierter Beckett („Warten auf Godot“) und Goschs sensationeller „Der zerbrochene Krug“. Außerdem viele Zuschauer (218.000), mehr Ein-nahmen und damit Tilgung des Defizits von inzwischen 540.000 EUR (Stand November 2003).
Jan Bosses eigensinnig-junge, selbstbewusst in einer Arena platzierte „Faust“-Inszenierung brachte in der Abschiedsspielzeit nur einen Monat nach Puchers „Othello“ den ganz großen Hype, die Vorstellungen mit Edgar Selge und Joachim Meyerhoff als Faust und Mephisto waren und sind sämtlich ausverkauft. Das
Schauspielhaus im Rausch! Und Stromberg auch.
Zusammen mit Peter Zadek hat er die Produktionsgesellschaft „My way“ gegründet, die drei Shakespeare-Koproduktionen plant. Geprobt wird in einem Herrenhaus im brandenburgischen Örtchen Streckenthin, Ausfahrt Landleben. Dorthin will Stromberg Freunde einladen und einen einjährigen Ausbildungslehrgang entwickeln – finanziert durch eine Stiftung. Mit Hamburg hat er sich ausgesöhnt – und Hamburg sich mit ihm.
Theater der Zeit, Heft 6/2005