„Kommst du, Peter? Abendbrot ist fertig. Was zieht die Theaterspitzenkräfte Peter Zadek und Tom Stromberg ausgerechnet in die Prignitz?“ Berliner Zeitung, 30. Juli 2005

Veröffentlicht von Thomas am

VON ULRICH SEIDLER 

Drei milchkaffeefarbene Rindviecher glotzen durch nasse schwarze Augen auf eine Schubkarre mit Kraftfutter. Wenn hier im nächsten Frühling die Theaterspitzenkräfte – der noch bis Sonntag amtierende Theaterdirektor des Hamburger Schauspielhauses Tom Stromberg und der Regie-Großmeister Peter Zadek – in schöpferischer Versonnenheit an der Weide vorbeiwandeln, wird es die Rinder kaum interessieren. Doch als ein Bauer kommt, heben sie die Köpfe und scheinen zuzuhören, als er erzählt: Er ist bald achtzig, die Rente ist ein Witz, die Kinder sind weg, die Frau kann nur noch schlecht laufen, der Hof ist mangelhaft gebaut. „Ich hatte ja nichts, als ich ‘47 aus der Gefangenschaft zurück kam. Was soll man machen?“ fragt er. „Man kann nichts machen“, sagt er und kippt die Karre aus. Das Vieh frisst.

Das Haus nebenan ist in tadellosem Zustand. Es ist eigentlich eher ein Schloss zwischen zwei Seen mit einem von repräsentativen Pyramideneichen umrahmten Entree, einem Turm, einem Wintergarten, zwei herrlichen Terrassen über dem grützegrünen Wasser. Es ist das Gutshaus von Streckenthin/Pritzwalk in der Brandenburger Prignitz, Tom Stromberg hat es sich gekauft: „Dieses Gutshaus ist ja für alles zu groß. Es war völlig schwachsinnig, sich so ein großes Haus anzuschaffen. Jetzt im Nachhinein hat es aber einen Sinn bekommen. So ist das in meinem Leben. Ich muss einfach auf meine Intuition vertrauen. Das hatte ich zwischendurch verlernt.“ 

Stromberg hatte das großformatige Refugium auf dem Weg von Hamburg nach Berlin schon erworben, als Peter Zadek mit einem Anliegen zu ihm kam. Zadek bat den versierten Theatermanager, seinen Kindheitstraum von einer eigenen Shakespeare-Company durchzurechnen. Fünf Koproduzenten brachte Zadek für die erste Inszenierung „Was ihr wollt“ mit: die Berliner Festspiele, die Wiener Festwochen, die Ruhr-Triennale, das Staatsschauspiel Dresden und das Schauspielhaus in Bochum. Stromberg überlegte zwei Monate, überarbeitete das Budget und sagte zu. Zusammen mit der Verlegerin Antje Landshoff-Ellermann (vormals Rogner & Bernhard) gründeten Zadek und Stromberg die Firma my way production. Der Sitz der „gemeinnützigen Produktions-GmbH zur Entwicklung von Theaterproduktionen und Gastspielen“ ist gleichzeitig der Probenort: das Streckenthiner Gutshaus. Die Proben beginnen im nächsten Mai, die Inszenierung wird am 16. September 2006 in Bochum zur Premiere kommen und dann hoffentlich mindestens ein Jahr auf Tournee gehen, um die Ausgaben einzuspielen. 

Mit der Tatsache, dass eine gemeinnützige Gesellschaft keine Gewinne erwirtschaften darf, meint sich Stromberg nicht auseinander setzen zu müssen. „Haben Sie schon einmal ein Theater gesehen, das Gewinne macht? Wenn man es schafft, im Stadttheater 25 Prozent einzuspielen, ist man König in Deutschland. Wir hoffen, dass wir mit Gastspielen und Fernsehaufzeichnung bei Null zu Null rauskommen. Wenn wir tatsächlich ein paar Euro übrig haben sollten, stecken wir die in die nächste Shakespeare-Produktion.“ 

Wieso geht Zadek überhaupt ein Risiko ein? Warum macht er nicht so weiter wie bisher, rückt ein in die großen subventionierten Häuser, legt den Betrieb lahm, bringt seine Lieblingsschauspieler mit und streicht seine hohe und sichere Gage ein? Mehr Freiheiten als Zadek werden an deutschsprachigen Bühnen keinem Regisseur eingeräumt.

Aber diese Freiheiten reichen ihm eben nicht aus. Er möchte nicht mehr mit Schauspielern probieren, die mit der einen Hirnhälfte schon bei der Abendvorstellung sind. Außerdem findet er, dass seine Stücke zu wenig gespielt werden. Strindbergs „Totentanz“, der in Wien herauskam, kann aber gar nicht länger auf Tournee gehen, weil ohne den Hauptdarsteller Gert Voss der Spielplan des Burgtheaters zusammenbräche. Für „Was ihr wollt“ besetzt Zadek denn auch nur Schauspieler, die nicht in Engagements gebunden sind. Dabei werden die Zadek-Schauspielerinnen Susanne Lothar, Angela Winkler und Eva Mattes quasi in Familienzusammenführung erstmals gemeinsam auf der Bühne stehen. 

Zadek, der das Arbeiten unter Luxusbedingungen gewohnt ist, wird sich nun einschränken müssen. Dass das Bühnenbild elementar ausfällt, darauf hat man sich schon geeinigt – natürlich aus künstlerischen Gründen, deren ökonomische und reise-praktische Vorteile aber herzlich begrüßt werden. „Zadek und ich haben keinen Intendanten und keinen Kulturdezernenten mehr, denen wir goldene Löffel abverlangen können. Wenn wir jetzt unerfüllbare Forderungen stellen, dann an uns selber.“ Dass diese Einschränkungen selbst auferlegt sind und für Unabhängigkeit eingetauscht werden – vielleicht besteht darin die künstlerische Freiheit, die sich Zadek auf seine alten Tage erlaubt. 

Und dann ist da noch die romantische Vorstellung vom gesegneten schöpferischen Landleben. Stromberg hat viel damit zu tun, Klischees von einer Ferienlager-Landkommune auszuräumen. Dennoch kommt er ein bisschen ins Schwärmen, wenn er sich die Probenzeit ausmalt: „Wir haben wunderschöne Gästezimmer hier. Eins im oberen Stockwerk ist für Zadek reserviert, das heißt schon Zadek-Zimmer. Vielleicht werden wir mit der Truppe nach der Probe gemeinsam zu Abend zu essen. Ich stelle es mir schön vor, draußen an einem langen Tisch zu sitzen, gemeinsam etwas zu essen und über Shakespeare zu sprechen.“ 

In der Tat sind die Räume licht und luftig. Wenige gut ausgesuchte alte Möbel sind frisch auf grobem, dunklem Parkett arrangiert. Es gibt einen Proberaum mit Schlagzeug, dazu technisch hochgerüstete Arbeitszimmer, im Wintergarten steht ein Billardtisch, ein Schlauchboot liegt am Ufer. Das wär’s doch: Nach der Probe im Gummiboot liegen, sich durch die Schlossteich-Entengrütze treiben lassen, die Gedanken mit den Wolken nach Illyrien schicken, bis es von der Terrasse herüberflötet: „Kommst du, Peter? Abendessen.“ Auf die Frage, wer Herrn Zadek das Frühstück mache, lässt Stromberg die Idylle gleich wieder platzen: „Das macht er sich schon selber!“

Sich allein mit Zadek eine schöne Zeit zu machen, das hätte Stromberg nicht ausgereicht. An die Produktionsgesellschaft koppelt er eine kleine Theaterakademie für ungefähr zehn junge Leute – fertig ausgebildete Berufsanfänger, etwa Schauspieler, Kostümbildner oder Theaterwissenschaftler. Die werden die Zadek-Produktion vorbereiten und begleiten, sie bekommen Workshops angeboten. Eigentlich sollen die zehn Leute im Kleinen als eine zweite selbstständige Theatergruppe funktionieren. Am Ende gibt es denn auch weder Zeugnis noch Empfehlungsschreiben, sondern, wenn es klappt, eine eigene Produktion. Das Geld für die Stipendien soll von Mäzenen, Sponsoren und Stiftungen kommen. Vielleicht gebe ja auch Brandenburg etwas dazu, denkt Stromberg laut. „Ich meine, wir sind denen ja wie ein Geschenk in den Schoß gefallen.“

Von den Nachbarn fühlt sich Stromberg „wahnsinnig freundlich“ aufgenommen. Im Frühling feierte er in Streckenthin seinen 45. Geburtstag und gleichzeitig die Gesellschaftsgründung. Das ganze Dorf war eingeladen – und kam auch. Es soll viel getrunken worden sein. Besser noch dürfte sich Stromberg als neuer Dorfbewohner empfohlen haben, weil er sämtliche Arbeiten im und am Gutshaus von Leuten verrichten lässt, die aus der Umgebung kommen. Hier liegt die Arbeitslosigkeit bei bis zu 30 Prozent. „Dass hier überhaupt jemand herkommt und in dieser Gegend was auf die Beine stellt, dafür bekomme ich unheimlich positive Reaktionen. Die Leute haben das Gefühl, dass man sie eigentlich vergessen hat.“ Wenn „Was ihr wollt“ funktioniert, wird der „Sommernachtstraum“ in Angriff genommen. Er soll dann im Sommer 2007 in der Prignitz gezeigt werden, als Freilufttheater. „Da können die Leute Zimmer vermieten, vielleicht auch für die Inszenierung arbeiten oder mitspielen, was weiß ich. Da würde zumindest temporär mal was bewegt werden. Aber ich bin kein Politiker, ich werde einen Teufel tun und jemandem etwas versprechen.“ 

Stromberg hält sich alles offen. Bei ihm gebe es keine Dogmen, sagt er. Dass er überhaupt aufs Land gezogen ist, hätten ihm seine Freunde nicht zugetraut. Er lebt gerade einen Monat in Streckenthin; als es mal einen Tag regnete, flüchtete er nach Berlin, um – wie er es sagt – Möbel auf dem Flohmarkt zu kaufen. Wenn man schnell fährt, braucht man eine gute Stunde. Gerade war er noch der Chef von vierhundert Leuten; nun muss er eigentlich nur Zadek und sich selber in Gang setzen. „Einsamkeit hilft“, steht über dem Eingang. Aber nur, wenn man sie jederzeit unterbrechen kann. Beim Bauer mit den Rindern steht ein Trabant auf dem Hof. „Den fährt meine Frau“, sagt er, „mein Mitsubishi ist ihr zu schnell.“

Berliner Zeitung, 30. Juli 2005

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