„Undogmatisch, unruhig, unliebsam . . . und neugierig wie ein Anfänger: Selbst an seinem 80. Geburtstag ist Peter Zadek immer noch einer der Jüngsten“. Südddeutsche Zeitung, 19. Mai 2006

Veröffentlicht von Thomas am

VON CHRISTINE DÖSSEL

Es klingt wie ein Beitrag zur aktuellen „Ekeltheater“-Debatte, was der große Regisseur Peter Zadek in Bezug auf seine legendäre Hamburger „Othello“-Inszenierung von 1976 in seinen Erinnerungen schreibt: „Nacktheit, Körper, Sexualität auf der Bühne – unser Theater ist ein angezogenes Theater, so muss man es beschreiben, in dem Sinn ist es erzogen. Menschen verbringen aber nur einen Teil ihres Lebens angezogen. Wichtige Dinge, die sie tun, tun sie nicht angezogen. Nicht nur scheißen oder ficken, auch viele andere Dinge. Der nackte Körper und die Anwesenheit des nackten Körpers, auch die Sicht darauf verändert alles.“

Im ebenso gut erzogenen wie angezogenen Theater deutscher Tradition war der Regisseur Peter Zadek, der Ende der fünfziger Jahre wie ein Wirbelsturm über das noch in allen Gliedern erstarrte Deutschland kam, der ungezogene Bube: ein Provokateur und Bildungsbürgerschreck, der das konventionelle Nachkriegs- und Klassikertheater aufmischte und auffrischte wie kein anderer.

Zadek ist Jude, geboren am 19. Mai 1926 in Berlin-Wilmersdorf: Heute feiert er seinen 80. Geburtstag. 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, waren die Eltern mit dem damals Siebenjährigen nach England emigriert. Von dort brachte Zadek 25 Jahre später – neben einer hilfreichen Gebrauchsregie-Erfahrung aus der englischen Provinz – all das mit, was seine Inszenierungen hierzulande herausragend anders machte: englischen Witz, britische Coolness, Verrücktheit und Verspieltheit, Vorliebe für das Spektakelige, für Music Hall, Revuen und Boulevard – und seine große Liebe zu Shakespeare natürlich, die nie nachgelassen hat. Bald schon gesellten sich Ibsen und Tschechow als seine Leib-, Seelen- und Magendramatiker hinzu. Das „Dreigestirn meiner Theatergötter“ nennt er sie. 

Akuter Ekeltheater-Alarm

Wie das alles begann, damals in den wilden sechziger Jahren, als Zadek am Bremer Theater – und bei jungen Frauen wie Judy Winter – reüssierte, den Blick auf die Klassiker revolutionierte und das, was wir heute Regietheater nennen, eigentlich überhaupt erst erfand, das konnte man sehr anschaulich und lehrreich in seiner 1998 erschienenen Autobiographie „My Way“ nachlesen.

Jetzt ist unter dem Titel „Die heißen Jahre“ der zweite Teil seiner Erinnerungen erschienen, in Sprüngen die Zeit zwischen 1970 und 1980 umfassend, vor allem die Jahre seiner Bochumer Intendanz von 1970 bis 1975: ein höchst lesenswertes und unterhaltsames Buch, gespickt mit Anekdoten, Bekenntnissen, Liebes- und Lebenserklärungen, geschrieben im nonchalanten, oft saloppen Zadek-Plauderton (Peter Zadek: Die heißen Jahre. 1970-1980. Verlag Kiepenheuer&Witsch, München 2006. 425 Seiten, 22,90 Euro). Das liebdienerische Vorwort hat ausgerechnet Matthias Matussek geschrieben, der Kulturchef des Spiegel, der – im Trittbrettfahrverbund mit der Bild-Zeitung – den akuten Ekeltheater-Alarm überhaupt erst ausgelöst hatte. Erst neulich, beim Berliner Theatertreffen, wetterte er gegen Auswüchse des von Steuergeldern hoch subventionierten deutschen Regietheaters und lobpries statt dessen das englische Theater, das Shakespeare noch anständig vom Blatt spiele – genau jenes Theater also, das Zadek so spielerisch, frech und frei überwand. Und für das er niemals stand.

Hätte Matussek das Kapitel über Zadeks Hamburger Skandal-„Othello“ gelesen, ihm wäre übel oder bestenfalls nachdenklich zumute geworden. Zadek schildert darin, wie der „dicke, große, fette, nicht sehr ästhetische Wildgruber schwitzte wie eine Sau“, wie er mit seiner Mohren-Schminke abfärbte an der fülligen Eva Mattes „mit ihrem kleinen Bikini“, wie er sie schließlich, im letzten Akt, „in einer Art Rausch und Wahn“ aus dem Bett zerrte, sie splitternackt über die Bühne schleifte und dabei tötete, um dann ihre Leiche über den Brecht-Vorhang zu hängen, „mit dem Hintern zum Publikum“. Das Premierenpublikum soll geschrieen, getobt und sich gegenseitig geschlagen haben. „Es war der völlige Wahnsinn“, schreibt Zadek, „wie ein pornographischer Horrorfilm.“ Die Inszenierung wurde legendär – wie der Regisseur. 

Freilich, „Othello“ liegt 30 Jahre zurück, und auch ein Zadek ist mit den Jahren zahmer und konventioneller, wenn auch nie müde geworden. Die Arbeiten jüngerer Regisseure beschimpft er heute gerne als plump, stilisiert und dumm. Aber es war er, der ihnen den Weg in die inszenatorische Freiheit ebnete, und der schon in seinen „heißen Jahren“ Dinge betrieb, die heute gang und gäbe sind.

Als Intendant in Bochum setzte Zadek auf populäres Theater, wie man es bis dato in Deutschland nicht kannte. Mit der Eröffnungsinszenierung, der Revue „Kleiner Mann, was nun?“ nach dem Roman von Hans Fallada, erschloss er sich die unterschiedlichsten Zuschauerschichten, darunter den gesamten VFL – ein rauschender Erfolg. Zadek schuf das existierende Abonnement ab, brachte die Fernsehserie „Ekel Alfred“ als Mittagsaufführungen ins Theater, veranstaltete Themen-Wochenenden und eröffnete eine Theaterkneipe . Zadek war nie ein großer Freund der Mitbestimmung, wie sie in den siebziger Jahren angesagt war. Er rumpelte deshalb mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder aneinander, der das Haus nach einem Jahr wieder verließ. Zadek wollte keine organisierte Mitbestimmung, sondern ein Haus mit freien Schauspieler, die „ihre Meinung sagten und ihre Ideen einbrachten“. Die zentralen Entscheidungen aber wollte er selber treffen: „Ein Theater, das mich interessiert, muss nach meinem Geschmack arbeiten, sonst ist es nicht meines.“ 

Ein Irrer unter Irren

Liest man Zadeks Erinnerungen an diese Jahre, entsteht nicht nur ein plastisches Bild jener turbulenten Zeit, in der „ein Irrer unter Irren“ das Theater neu erfand, auch der private Zadek mit seinen Eigenheiten, Amouren und Neurosen kommt einem nahe. Seine Auseinandersetzungen mit Schauspielern, seine Schokoladen- und Medikamentensucht, seine oft stressigen Affären mit mehreren Frauen gleichzeitig – Zadek ist da sehr offen, ja redselig, schont in seinen Berichten weder andere noch sich selbst. „Die heißen Jahre“ zeugen von gelebtem Leben, sie sind aber auch ein erhellendes Arbeitsbuch aus dem Innenleben des Theaters. Wenn Zadek von den Probenarbeiten zu seinen großen Bochumer Shakespeare-Inszenierungen wie „König Lear“ (1974) oder „Hamlet“ (1977) erzählt oder von seiner Arbeit am „Wintermärchen“, 1978 in Hamburg, dann sind das ebenso geist- wie lehrreiche Werkstattberichte aus dem Zadek-Kosmos, den vor allem eines kennzeichnet: größtmögliche Freiheit für die Schauspieler und ihre Phantasie. Die Schauspieler stehen im Zentrum von Zadeks Theater – und also auch im Zentrum seines Buches, das eine Liebeserklärung an sie ist.

Undogmatisch, unruhig, unliebsam, das ist Zadek geblieben. Und neugierig wie ein Anfänger. „Er ist ein Hafen für die Decouragierten, denn er glaubt noch an unser natürlich sehr anachronistisches Gewerbe, indem er jedes seiner neuen Projekte wie ein Neuer angeht“, schreibt sein Freund und Regiekollege Luc Bondy in dem schönen Band „Peter Zadek – His Way“ (herausgegeben von Klaus Dermutz. Henschel Verlag, Leipzig 2006. 160 Seiten, 24,90 Euro). Zadek, der im Alter von 80 Jahren im Kopf noch immer einer der Jüngsten ist, will künftig mit Tom Stromberg und einem fahrenden Trupp Shakespeare inszenieren. Die erste Premiere, „Was ihr wollt“, musste wegen Krankheit leider auf 2007 verschoben werden. Peter Zadek sei alles Gute gewünscht. 

Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2006

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