„Der Rebell, der einer war. Theater und Vergänglichkeit – ein Interview zum 80. Geburtstag von Peter Zadek“. Neue Zürcher Zeitung, 19. Mai 2006
Theater und Vergänglichkeit – ein Interview zum 80. Geburtstag von Peter Zadek
Heute wird Peter Zadek achtzig Jahre alt. Der in Berlin geborene Sohn liberaler Juden, 1933 nach England emigriert und 1958 nach Deutschland zurückgekehrt, prägte das deutschsprachige Theater wie kein anderer Regisseur seiner Generation. THOMAS DAVID traf ihn zu einem Gespräch.
Herr Zadek, kürzlich haben Sie einer Kinovorführung von «Ghetto» beigewohnt, der Aufzeichnung Ihrer Inszenierung von Joshua Sobols Stück, mit dem Sie 1984 an der Berliner Freien Volksbühne einen großen Erfolg feierten. Mit welchen Gefühlen haben Sie sich die Aufzeichnung angesehen?
Ach, schon mit sehr gemischten. Durch den Film habe ich in gewisser Weise auch das Original wiedergesehen, und das ist ja doch einige Jahre her. Damals war es ein aufregendes Projekt, die Aufzeichnung selber ist nicht die beste.
Die Film- oder Fernsehfassung einer Inszenierung dokumentiert einerseits, sie verweist aber gleichzeitig auf eine ursprüngliche Qualität des Theaters: das Augenblickshafte, das Vorübergehende.
Auf das Wesen des Theaters, finde ich. Theater passiert sehr schnell, und das war’s. Leute, die ihre Sachen für die Ewigkeit aufheben wollen, sollten nicht Theater machen, sondern vielleicht lieber Film. Ich habe ja selbst einige Filme gedreht, aber in irgendeiner Weise hat mich das nicht befriedigt, vermutlich, weil mein Wesen dem Zirkus so nahe ist. Ich finde es einfach toll, wenn zum Beispiel ein Schauspieler, den man vorher vielleicht gar nicht so wichtig fand, auf der Bühne irgendwas macht und für einen Augenblick das Größte und Aufregendste ist, was überhaupt gerade passieren kann. Im Film ist so was unmöglich, da ist alles festgelegt. Die Plötzlichkeit und Vergänglichkeit macht das Theater so menschlich. Es ist genauso menschlich und vergänglich wie unser Leben.
Wie kann man in diesem Sinne über Schauspieler als Teil eines Kunstwerks nachdenken? Ich zitiere eine der Fragen, die Sie Ende der vierziger Jahre dem englischen Bühnenbildner und Theoretiker Edward Gordon Craig gestellt haben.
Die Begegnung mit Craig war natürlich maßgeblich für mein ganzes Leben, und diese zentrale Frage hat mich seitdem immer beschäftigt und ist noch heute mein Problem. Theater kann so menschlich und realistisch sein, wie es will, aber es ist und bleibt trotzdem künstlich. Den Kampf dieser zwei Seelen in meiner Brust, zwischen Ästhetik und Realismus, erlebe ich nun schon seit ungefähr hundert Jahren. Die erste Auseinandersetzung über dieses Thema hatte ich 1957 mit Jean Genet, der mich erschießen wollte, weil ich sein Stück «Der Balkon» in London für seinen Geschmack zu realistisch inszenierte.
Wenn Quadflieg niest
Wie viel Realismus fanden Sie im deutschsprachigen Theater vor, als Sie England 1958 verließen?
Damals musste man den deutschen Schauspielern beibringen, wie man eine Tasse Tee eingießt, weil sie alle dachten, Tee sei etwas wie ein Höllenbräu, und beim Eingießen deshalb ihre riesigen Dinger machten. Ich erinnere mich noch an eine der ersten Sachen, die mir durch den Kopf gingen, als ich mir in Deutschland Theater ansah: Was passiert, wenn Quadflieg mitten in einer Schiller-Rede niest? Dann ist alles vorbei, dann müssen die den Vorhang runterlassen, dachte ich, und das kann doch nicht sein. Menschen niesen, und sie kratzen sich auch mal und haben überhaupt lauter komische Eigenschaften.
In «Peter Zadek inszeniert Peer Gynt», Alexander Nanaus Dokumentarfilm, der Einblick in Ihre Arbeit 2004 am Berliner Ensemble gibt, sagen Sie zu Ihren Schauspielern: «Ich habe das Stück so inszeniert, dass Ihr es nur noch spielen müsst.» Machen Sie es den Schauspielern so leicht?
Allerdings, aber das zu begreifen, ist für einen Schauspieler furchtbar schwer und kann zwanzig Jahre dauern. Es kann aber auch fünf Minuten dauern, wenn es der richtige Schauspieler ist: zu begreifen, dass Schauspielen nichts mit Gestalten zu tun hat. Man muss auf der Bühne nicht gestalten. Es muss im Kopf gedacht, gestaltet und gesagt werden, und das genügt dann auch. Der Vorgang im Kopf, in der Phantasie, dieser Vorgang der Vertiefung, bis etwas Teil des Charakters wird und Teil einer Szene, ist allerdings sehr kompliziert, und wenn man’s schlecht macht, kommt billiger Boulevard dabei heraus.
Ein Name, der in «Die heißen Jahre», dem soeben veröffentlichten zweiten Band Ihrer Autobiografie, immer wieder genannt wird, ist Rainer Werner Fassbinder. Sie wüssten nur von zwei Künstlern, deren Aufführungen ähnlich durchsichtig seien wie die Fassbinders: «Meine eigenen und die Aufführungen von Bertolt Brecht.»
Sage ich das? Es ist ja schon ein paar Jahre her, dass ich das Buch diktiert habe. Seitdem habe ich die «Mutter Courage» gemacht und bin etwas Brecht-geschädigt. Die «Courage» war nämlich nicht sehr gut, weil’s mein erstes großes Stück von Brecht war und ich nicht begriffen hatte, wie wenig Psychologie darin überhaupt stattfindet. Botho Strauss, der die Aufführung gesehen hat, sagte, man merke ihr an, dass bei Brecht zwischen den Zeilen kein Platz ist. Und ich brauche Platz, und wie ich den brauche. Das hat vermutlich mit meinem gossen Freiheitsempfinden zu tun.
Gibt es Situationen, in denen Freiheit nicht auszuhalten ist?
Im Theater andauernd. Ich weiss noch, wie Barbara Sukowa, die 1983 in meiner Münchner Inszenierung von Ibsens «Baumeister Solness» die Hilde Wangel spielte, mich immer totschlagen wollte, weil ich nie sagen mochte, ob sie gut war oder nicht. Woher sollte ich das aber wissen, schließlich kann man nicht ahnen, wohin das Spiel einen Schauspieler als Nächstes führen wird. Wenn man als Regisseur zu früh abbricht – Brecht hat mal was Ähnliches gesagt, aber ich hab’s nicht von ihm geklaut -, dann bricht man einen Phantasiegang ab, dessen Ende man gar nicht vorhersehen kann.
Wird Freiheit in unserer Gesellschaft nicht allzu oft als etwas Bedrohliches empfunden?
Logisch, und das ist ja auch der Grund für das Problem, das viele Leute mit meinen Inszenierungen haben. Die sitzen da unten im Publikum und kriegen keine Antworten, weil ich eben finde, dass es deren Aufgabe ist, sich das Leben auf der Bühne anzugucken und sich zu fragen, wie sie an der Stelle der Figuren reagieren würden. Aber Freiheit ist natürlich eine furchtbare Bedrohung für Menschen, die Angst vor Verantwortung haben. Das ist im Theater nicht anders als draußen in der Gesellschaft.
In einem kurzen Nachwort zu «Die heißen Jahre» beklagen Sie den «Tod der Berliner Kultur» in den Achtzigern: Das Rentabilitätsdenken habe sich seitdem in der Kunst immer mehr durchgesetzt.
Das ist eine furchtbare Entwicklung, mit der ich allerdings vertraut bin. Ende der fünfziger Jahre habe ich England aus genau diesem Grund verlassen. Jetzt wird’s allerdings auch hier immer enger. Wenn ich alle meine Gänse in einer Produktion zusammenkriegen will, alle meine Schauspieler, ist das fast unbezahlbar und geht nur, wenn sie auf einen großen Teil ihrer Gage verzichten. Es wird finanziell immer schwieriger, und ich sehe die Notwendigkeit eines Auswegs.
Absurder Beruf
Sie meinen damit Ihre gemeinsam mit Antje Landshoff-Ellermann und Tom Stromberg gegründete «my way Production» im brandenburgischen Streckenthin. Die Initiative zu dieser Unternehmung geht auf eine Idee zurück, die Sie bereits mit Anfang zwanzig hatten.
Das stimmt. Ich saß damals mit vier, fünf Freunden im Garten meiner Eltern, und wir gründeten unsere erste Theatergruppe. Ich habe das später in Deutschland immer mal wieder versucht, aber es scheiterte jedes Mal daran, dass ich keinen Partner an meiner Seite hatte, der das Administrative erledigte. Das ist nicht mein Ding, da bin ich unbegabt. Jetzt habe ich Tom Stromberg, mit dem es in Streckenthin zwanzig Jahre laufen könnte. Das funktioniert dann auch ohne mich, sollte ich vielleicht noch hinzufügen.
Im Vorwort zum vor acht Jahren veröffentlichten ersten Band Ihrer Autobiografie schreiben Sie, dass Ihnen der «absurde Beruf» des Regisseurs eigentlich gar nicht liege. Wissen Sie am Ende Ihres achtzigsten Lebensjahres, weshalb Sie ihn dennoch ergriffen haben?
Nö, ich weiß das eigentlich noch immer nicht, zumal ich eher ein ängstlicher Mensch bin und kein Boss. Ich habe natürlich mit der Zeit gelernt, wie man sich als Boss verhält. Aber als ich mit achtzehn oder neunzehn den Entschluss fasste, Regisseur zu werden, war ich ein neurotischer Emigrant und hatte große Probleme mit der englischen Gesellschaft. So wie später mit der deutschen. Ich wollte eigentlich Geiger werden, und das wäre irgendwie das Gegenteil gewesen.
Peter Zadek: Die heißen Jahre. 1970-1980. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 429 S., Fr. 40.10.
Klaus Dermutz (Hg.): Peter Zadek. His Way. Henschel-Verlag, Berlin 2006. 160 S., Fr. 43.70.
Neue Züricher Zeitung, 19. Mai 2006