Fleetstreet: Pilotjahrgang der Zadek-Theaterakademie gastiert in Hamburg

VON KLAUS WITZELING

„Wieso machen wir das heute soooo?“ Dem Schauspieler Tammo Winkler – eigentlich bildender Künstler und Bühnenbildner – reißt die Geduld. Er stürmt von der Bühne auf Tom Stromberg im Parkett zu und brüllt: „Nur weil das Fernsehen heute da ist?“ Die Maulschelle für den Regisseur, ausgeführt durch Händeklatschen, ist zwar getürkt, doch der handfeste Probenkrach wirkt echt. Und unterbricht ziemlich realitätsnah die Durchlaufprobe für die Szenencollage „Selbstauslöser!“ im Fleetstreet-Theater.

Das Theaterprojekt nach dem Audition-Motto „Wir über uns“ entstand als Abschlussaufführung des ersten Jahrgangs der „Was-ihr-wollt“-Theaterakademie, geleitet von Ex-Schauspielhaus-Intendant Stromberg und Regiegroßmeister Peter Zadek im Gutshaus Streckenthin. Die szenische Reflexion über sechs Monate kollektives künstlerisches Arbeiten in der Landidylle der Prignitz ist an zwei Abenden zu Gast in Hamburg.

Die Stockbetten, in denen sich die Schauspieler mit allerlei Krimskrams häuslich eingerichtet haben, schaffen eine Stimmung von Internat oder Kommiss. Seit April 2006 waren sie zusammen in Klausur, um ihre Theatermacherkünste zu vervollkommnen. Alle sieben Teilnehmer haben eine abgeschlossene Ausbildung. Tontechniker Jan Rech übernimmt da auch schon mal im Handwerker-Spiel aus dem „Sommernachtstraum“ die Rolle der Wand.

Die Akteure zeigen in „Selbstauslöser!“ Momentaufnahmen ihres Alltags mit Improvisationsetüden, Proben und Vorstellung im Rückblick. Sie grübeln im Mobiliar der verstorbenen Martha über das Sterben und eigene Nachlass-Verfügungen. Um dann lebenslustig fremde Identitäten auszuprobieren, deren Geschichten sie im Rollentausch aus dem Moment schlagfertig weiterspinnen – gesteuert vom Licht- oder Tonmann. „Wird denen fad, knallen sie Musik dazwischen oder schwenken mit dem Spot einfach weiter“, erklärt Stromberg die Regeln des harten Show-Biz.

Jeder Abend läuft folglich anders ab, obwohl er auf einer fixen Struktur basiert. „Wiederholung geht doch gar nicht“, verkündet Peter Zadek per Video seine Kunstmaxime. „Nur technische Schauspieler machen das, aber dann ist ihr Spiel tot.“ Die „Was-ihr-wollt“-Theaterakademie will jedoch hellwache und lebendige Künstler und keine Darstellungsbeamten fördern. Statt des Handwerksdrills ist prozesshaftes Lernen angesagt. Wie das aussieht, davon geben die schlaglichtartigen Szenen ein klares, aber auch selbstironisches Bild.

Zum Finale folgt natürlich das unvermeidliche, gefürchtete Vortanzen beim Vorsprechen. Sie wünschen sich einen Regisseur, der weiß, was er will. Oder einen gut riechenden männlichen Partner. Die blonde Miriam Wagner lockt verheißungsvoll: „Ich hab’s nicht so mit Handy und E-Mail. Bin dann an der Bar ansprechbar und auch trinkfest.“ Auf derlei Selbstdarstellung hat Tammo keinen Bock. Der Wütende bleibt stumm, geht einfach ab. Der Kunstmaler, übrigens Sohn von Schauspielerin Angela Winkler, will gar nicht zur Bühne. Doch man ja kann nie wissen . . .

Schon steht der zweite Jahrgang für die besondere Postgraduate-Ausbildung in den Startlöchern. „Über 200 Bewerbungsschreiben haben wir bekommen“, sagt Stromberg. Doch die Würfel sind bereits gefallen – bei einem Vorsprechen in der Kampnagelfabrik. „Von 53 Bewerbern in engerer Wahl haben neun das Rennen gemacht“, erzählt er. „Alle werden nach einer mehrwöchigen Anlaufphase eine besondere Praxiserfahrung machen – in Zadeks ,Was ihr wollt‘-Inszenierung mit Premiere bei den Wiener Festwochen.“

Hamburger Abendblatt, 6. Dezember 2006