„Wer nicht vernetzt ist, kann es sein lassen“ in theaterpolitik.de
Gemeinsam mit Matthias von Hartz ist Tom Stromberg Künstlerischer Leiter von IMPULSE, dem wichtigsten Theatertreffen der freien Theaterszene im deutschsprachigen Raum. Tom Stromberg spricht über die Auswahl und Tendenzen in der Freien Szene.
Von Hannah Fissenebert
Könnten Sie die Auswahl des diesjährigen IMPULSE-Festivals charakterisieren?
Die Frage wird uns, Matthias von Hartz und mir, immer wieder gestellt: Gibt es einen roten Faden, der sich durch die eingeladenen Produktionen zieht? Wenn man die Themen der Produktionen aufzählt, ist es eine sehr vielfältige, bunte Zusammenstellung, z. B. gehört dazu ein Stück über einen afrikanischen Othello, dargestellt von einem afrikanischen Schauspieler, der gar nicht weiß, wer Othello ist, obwohl wir Westler doch denken, dass diese Bühnenfigur der Vorzeige-Schwarze schlechthin ist, der die Kulturen zusammenbringt. Daneben waren Stücke mit politischen Themen wie den Völkermord in Ruanda oder über das Phänomen Kommunismus zu sehen, Auseinandersetzungen mit Maskottchen, mit Büchners „Woyzeck“ oder Orson Welles. Die Frage nach einem roten Faden ist also schwierig zu beantworten. Die Impulse sind eine Art Besten-Festival, und da ist es natürlich erfreulich, dass das Spektrum an Themen und Ästhetiken in diesem Jahr so breit ist.
Eines fiel aber wieder sehr auf: Die seit längerem andauernde Entwicklung nicht nur weg vom Literaturtheater, sondern ganz allgemein weg vom traditionellen Sprechtheater hin zu performativen, genreübergreifenden Arbeiten zu verschiedensten Themen hält in der Freien Szene unvermindert an. Auffallend in diesem Jahr fand ich, dass sich diverse Produktionen mit Dramen und Filmen auseinandersetzten: Die eben erwähnte Arbeit „Othello c`est qui“ von Gintersdorfer/Klaßen, eine Beschäftigung mit „Woyzeck“ von Boris Nikitin, mit dem Kultfilm „Der Pate“ oder mit dem Film „F. wie Fälschung“ von Orson Welles. Das Großartige hieran ist, dass die Freie Szene diese Stoffe nicht einfach ein weiteres Mal auf die Bühne bringt in neuer Interpretation (Dramen) oder in der Umsetzung von filmischen Zugriffen ins Theatrale, sondern sich sehr eigenständig mit den Stoffen auseinandersetzt. Bestes Beispiel dafür ist der diesjährige Impulse-Sieger „Othello c`est qui“, der mit Shakespeares „Othello“ trotz einer sehr freien Beschäftigung mit dem Stoff mehr von Shakespeares Thema rüberbringt als manche Stadttheaterinszenierung.
Sie sprechen von einer großen Auswahl dieses Jahr. Gibt es denn einen Unterschied zu der Auswahl des letzten Festivals?
Matthias von Hartz und ich machen die Leitung der Impulse in diesem Jahr nach 2007 ja zum zweiten Mal und da vergleicht man natürlich. Das diesjährige Programm hat uns beiden besonders gut gefallen. Neben persönlichen Vorlieben spielt dabei sicher auch eine Rolle, dass wir in diesem Jahr noch mehr positive Reaktionen auf das Programm bekommen haben als vor zwei Jahren. Und wir haben in diesem Jahr mehr Produktionen eingeladen, es gab also noch mehr zu sehen. Die Jury hätte sogar gern noch zwei weitere Produktionen eingeladen, das war aber leider finanziell nicht zu machen.
Sie schreiben im Programmheft, das kollektive Arbeiten sei eine Tendenz, die in der Freien Szene zu beobachten sei. Gibt es weitere?
Ja, das ist nach wie vor eine starke Tendenz. Viele Performer, gerade auch besonders bekannte, arbeiten in Gruppen, zum Beispiel Rimini Protokoll, Gob Squad, Showcase Beat le Mot oder Das Helmi. Aber natürlich gibt es auch weiterhin zahlreiche Produktionen, die durch einen einzelnen Regisseur getragen werden, wie Tomas Schweigen, David Marton und viele andere in dieser Szene.
Der Spaß daran, enthierarchisiert und vielseitig arbeiten zu können, bringt die Theatermacher dazu, sich fürs kollektive Arbeiten zu entscheiden. Sie haben eben keine Lust mehr auf die traditionelle Aufteilung von Aufgabenbereichen, interessieren sich für verschiedene Künste und bringen unterschiedlichste Kompetenzen ein. Auch von ihrer Ausbildung her haben sie nicht mehr das Gefühl, ausschließlich zum Beispiel Musiker, Schauspieler oder Sounddesigner zu sein. Oder sie haben als Musiker eine so starke künstlerische Ausstrahlung, dass sie gleichzeitig auch als Schauspieler eingesetzt werden können, oder sie haben einen Hang zu Konzepten, zum großen Überblick und sind dann auch der Dramaturg der Produktion. Ich habe keine Sorge, dass diese Arbeitsweise zu einer Entprofessionalisierung führt. In diesen Kollektiven sieht man eine Menge sehr kompetenter, spezialisierter Leute, die mehr können als nur ihr Spezialgebiet.
In der freien Tanzszene zeichnet sich in den vergangenen Jahren eine starke Tendenz zum Solo ab. Sind ähnliche Tendenzen im Sprechtheater und in der Performance zu beobachten?
Das sehe ich im Sprechtheater nicht. Vorrangig ist hier die eben erwähnte Tendenz, nicht mehr Literaturtheater zu machen. Ich denke, diese Entwicklung hängt damit zusammen, dass sich das Freie Theater seit ein paar Jahren wieder verstärkt mit den verschiedensten gesellschaftlichen Fragen befassen will. Und da ist man natürlich viel freier, wenn man sich mit dem Thema mit eigenen Texten und anderen künstlerischen Mitteln (Musik, Video, Bildern etc.) auseinandersetzt als mit einem vorgegebenen Theatertext wie den klassischen oder zeitgenössischen Dramen. Das finde ich übrigens eine sehr erfreuliche Tendenz, denn so bleibt das künstlerische Medium Theater nah an Fragen dran, die die Zuschauer beschäftigen, und gewinnt besonders leicht ein nachwachsendes junges Publikum.
Birgt das Arbeiten im Kollektiv denn auch Probleme, so wie die Podiumsdiskussion „Kollektive Kontroversen“ suggeriert?
Das Problem beim Kollektiv ist natürlich schon manchmal, dass nicht immer alle Beteiligten einschätzen können, welches der Platz im Kollektiv ist, an dem sie bestmögliche Arbeit leisten können. So sieht man schon ab und zu Leute auf der Bühne, die man dort nicht so gern sehen möchte, weil ihnen dazu doch einiges fehlt an Bühnenpräsenz. Kollektive müssen schon sehr wach und ehrlich klären, wer von ihnen gut auf der Bühne ist und wer besser hinter den Kulissen tätig ist. Aber natürlich sieht man auch im normalen Stadttheater oder in anderen Schauspielgruppen viele nicht so gute Darsteller. Und wenn das Kollektiv mit größerer Authentizität oder überwältigendem Charme überzeugt, verzeiht man ihm das beschränkte Handwerkszeug im Schauspielerischen.
Also keine Bewegung zum Solo?
Wenn, dann höchstens aus finanziellen Gründen.
Kann sich ein Künstler in der deutschsprachigen Freien Szene von seiner Kunst eigentlich ernähren?
Die sogenannte „Freie Szene“ ist ja sehr vielfältig. Wenn Sie dazu auch Kabarettisten und Solisten in Richtung Comedy zählen, die sich auch Schauspieler nennen, dann sind das die Leute, die möglicherweise von ihrer Arbeit leben können. Die kommen allein mit ihrem Koffer und spielen los, die brauchen weder Kollegen noch Techniker bezahlen.
Die Künstler und freien Gruppen, über die wir hier sprechen, arbeiten in der Regel mit so begrenzten Budgets, dass mit allem Recht von einer äußerst prekären Lage der Freien Szene gesprochen werden kann. Viele von ihnen müssen unmenschlich viel Idealismus einbringen – die vielzitierte „Selbstausbeutung“ – und können sich nur mit diversen Nebenjobs über Wasser halten. Ich habe vor kurzem bei den Schillertagen in Mannheim einen Workshop gegeben zur Förderung der Freien Szene und habe ihn betitelt „Hungern auf hohem Niveau“. Geld über Jahre kontinuierlich mit einer freien Gruppe zu verdienen, bleibt in Deutschland sehr, sehr mühsam. Die einzige Chance besteht eigentlich nur darin, mit Koproduktionen und nach Möglichkeit internationalen Vernetzungen ein Budget erarbeiten zu können, mit dem man die Beteiligten halbwegs realistisch entlohnen kann. Wem diese Vernetzung nicht gelingt, der kann das Theaterspielen eigentlich irgendwann nur sein lassen.
Sind da die Strukturen im Ausland, zum Beispiel in Frankreich, wo zwei der IMPULSE-Gastspiele herkommen, andere?
In den anderen Ländern ist die Fördersituation völlig anders. Der Unterschied ist im Wesentlichen der, dass man in anderen Ländern Künstler fördert. In Belgien etwa werden Gruppen wie die inzwischen etablierte Needcompany und andere über viele Jahre unterstützt und durch Auftrittsmöglichkeiten gefördert. In Deutschland dagegen fördert man nach wie in erster Linie die Institutionen. Man sagt, wir fördern erstmal das Haus, das hat so und so viele Mitarbeiter und das soll durch unsere Förderung erhalten werden. Und die Entscheidung über die Künstler delegiert man an Manager, an den Intendanten, und meint, der werde schon die richtigen auswählen. Warum soll eine Stadt nicht auch sagen: Wir haben eine so starke Gruppe, die fördern wir. Bei uns in Deutschland ist vielleicht Pina Bausch ein Beispiel dafür, sie hatte eigentlich eine freie Gruppe und hat auch ganz frei gearbeitet. Im Fall von Pina Bausch hat eine Stadt das Theater irgendwann einer Künstlerin gegeben. Für ganz junge Leute ist das natürlich ein schwieriges Beispiel, das ist immerhin fünfzig Jahre her und für Deutschland ein ziemlicher Einzelfall. Aber warum sollte eine Stadt sich nicht entscheiden, einer sehr interessanten jungen Gruppe einen Ort zu geben, der traditionell eher für ein bildungsbürgerliches Abonnentenpublikum war? Und wenn man lediglich beschließt, eine freie Gruppe zeitweise dort arbeiten zu lassen, zum Beispiel in der traditionellen Sommerpause der Stadttheater, die es so für die freien Gruppen natürlich gar nicht gibt. Das wäre vielleicht ein Anfang. Diesen kulturpolitisch wichtigen Schritt ist in Deutschland niemand bereit zu gehen.
Wie wichtig ist der Einfluss der Gießener Schule für die Freie Szene heute noch? Mit Boris Nikitin und Hans-Werner Kroesinger sind ja wieder Gießen-Absolventen in der IMPULSE-Auswahl.
Wir haben in der Jury einen französischen Kollegen gehabt, Vincent Baudriller, den Leiter des Festival d’Avignon. Der sagt zu deutschem Theater, das in Gießen oder durch Gießen beeinflusst entstanden ist: „Das ist alles so dokumentarisch, authentisch. Es gibt gar keine Figuren auf der Bühne, keine charactères.“ In einer Jury-Sitzung hat er provokant gesagt: „Also, das ist für mich alles dasselbe.“ Und wir dagegen sehen es so: „Was für eine unglaubliche Vielfalt!“ Ich fürchte, wenn wir zusammen nach Frankreich fahren, in drei Theater gehen und uns verschiedene Sachen ansehen würden, dann würde der Franzose wahrscheinlich sagen: „Da seht ihr, was für tolles Theater wir haben“ und wir würden wahrscheinlich entgegnen: „Das ist ja alles dasselbe!“
Danke für das Interview, Herr Stromberg.