„Fünf Gründe für die deutsche Bahn“ Theater heute, 11 / 2009
Wolfram Koch ist nicht nur ein begnadeter Schauspieler, sondern auch leidenschaftlicher Bahnschläfer. Aus dem Leben eines frei flottierenden Workaholic erzählt
Von Tom Stromberg
„MOBILITY BAHNCARD 100 – IHRE MOBILITÄTSKARTE. ZU JEDER ZEIT GANZ NACH WUNSCH REISEN: EINFACH EINSTEIGEN UND LOSFAHREN! WOHIN SIE WOLLEN, SO OFT SIE WOLLEN: BELIEBIG VIELE FAHRTEN IN ALLEN ZÜGEN“, verspricht die Bahn. Das sieht dann so aus: Frankfurt – Hamburg („Othello“), Hamburg – Frankfurt („Der Fremde“), Frankfurt – Berlin („Die Perser“), Berlin – Frankfurt („Dreigroschenoper“), Frankfurt – Berlin („Anatomie Titus Fall of Rome“ von Shakespeare/Heiner Müller), Berlin – Frankfurt („Kampf des Negers und der Hunde“), Frankfurt – Ruhrfestspiele Recklinghausen („Traumspiel“), Recklinghausen – Berlin („Gefährliche Liebschaften“). Die Mobilitätskarte ist hier wichtigstes Requisit nicht für einen viel beschäftigten Geschäftsmann, wie man meinen könnte (der ist sowieso mit dem Flugzeug unterwegs). Sondern für einen Künstler, einen Schauspieler, dessen Beruf die Leute doch immer noch mit viel Innerlichkeit, Ruhe, mit intensiv-sensibler Ensemblearbeit und beschaulichem Rollenstudium verbinden. Das war einmal – der freie Schauspieler funktioniert eher so, dass er hier und dort und überall in kürzesten Zeitfenstern dabei ist, immer agil, immer präsent, jede Gelegenheit zum Spielen nutzend.
Auszug aus dem Arbeitsleben eines freien Schauspielers: Wolfram Koch. Für mich spätestens seit seinem Jago in „Othello“ im Deutschen Schauspielhaus einer der größten Schauspieler im derzeitigen deutschsprachigen Theater. Mittlerweile hat er wahnsinnig viele große Rollen an fast allen wichtigen Theatern gespielt – großartig, immer wieder. Selbst in biederen Inszenierungen wie „Traumspiel“: grandios. Wie macht der das? All diese Rollen zugleich und nebeneinander und nach und mit… Dazu Fernseh- und Filmaufnahmen (mit 13 Jahren ging´s los, am Theater mit 11), Hörspiele, Lesungen und noch mal Theater, auch wenn eigentlich gar keine Zeit mehr übrig ist. Aber er mit dem Regisseur gern arbeiten möchte. Oder eine kleine Rolle im Film „Countess“ von Julie Delpy übernimmt, denn das ist französisch und Wolfram Koch ist in Frankreich aufgewachsen. Das bedeutet Auftritte, Drehs, Proben, Rollenvorbereitungen, immer wieder Umstellung auf andere Häuser, andere Kollegen… und Fahrten, Fahrten, Fahrten. Die Mobility BahnCard 100 macht´s möglich, die Fahrten zwischen der Vorstellung in Z. und der in H., zwischen dem Hörspieleinsatz in K. und dem Theaterauftritt in Bo., zwischen dem Dreh in B. und dem privaten Rückzugsort in F., wo ihn 1 Frau, 4 Kinder, 1 Hund erwarten.
„WARUM DIESE KOMÖDIE, JEDEN TAG?“ (Becketts „Endspiel“, in dem Wolfram Koch neben Ulrich Matthes den Clov spielte).
Und dabei hat dieser fantastische Schauspieler bisher nicht mal einen Theaterpreis erhalten – mir völlig unverständlich. Aber wenn man etwas über seine Leistung und sein Arbeitspensum erfährt, wird überdeutlich klar: Der Mann hat auf jeden Fall einen Preis der Deutschen Bundesbahn verdient! Wie wichtig die BAHN für so ein Arbeitsleben ist, zeigt diese unvollständige Sammlung von Kompetenzen:
Höchste Anforderungen an Empathie, Gedächtnis, Arbeitstechniken > in der BAHN wird für die Rollen gelesen und es werden Beobachtungsstudien angestellt (Text lernen geht dort aber gar nicht)
„Seelenhygiene“ oder so was – oder wie kriegt man „Selbstmörder“ oder „Endspiel“ nachher wieder aus dem Kopf und Herzen? > die BAHN erdet wieder: Wolfram Koch ist natürlich ein Sparsamer, fährt immer 2. Klasse, mit „viel Kontakt zum Volk“, dort „erlebt man schon verrückte Sachen, fröhliche Reisegruppen mit Schnaps und so“
Ausgefeiltes Organisations- und Zeitmanagement (im Terminkalender sind alle Vorstellungen und Drehs langfristig verzeichnet; ironischerweise heißt es unter der Tagesauflistung kalenderseits: „Bei der Zählung der Arbeitstage sind Samstage als arbeitsfrei angenommen“ – von wegen. Konkrete Planung geht nach einem Blick auf die vor ihm liegenden 10 Tage nur tageweise, sonst ist es einfach zu viel)
Bewältigung der irre gewaltigen Arbeitswege > BAHN! („Diese Fahrerei ist eigentlich totaler Schwachsinn – schreib das!“)
Erholung und Schlaf sichern > BAHN – natürlich!
Ausgleich zwischen Beruf und Familie („Familien haben ihre eigenen Gesetze, man muss Abfahrts- und Ankunftsenergie extrem low halten, sonst wird das nichts“).
Wolfram Koch hat 5 Jahre lang fest am Schauspielhaus Bochum gespielt, 1995 bis 2000 war seine etablierte Zeit, das war großartig und das reichte dann auch. Davor und danach immer frei. Fest an ein Haus, nö, das will er nicht. Freier Schauspieler zu sein, das gibt ein „enormes Gefühl von Freiheit und das ist das, was ich wirklich will. Ich versuche, autonom zu bleiben in dem was ich tue“, sagt er. Oft hört er: Du machst zu viel, schone dich, mach mal Pause, aber er meint: „Ja, ich verausgabe mich bei der Arbeit, auf der Bühne lässt man schon sehr viel Energie, aber ich regeneriere ziemlich schnell“. Er will einfach mit all diesen Regisseuren arbeiten und die Vorstellungen machen ihm wahnsinnig viel Spaß („Doch, ich hab Ehrgeiz, den Ehrgeiz, mit Regisseuren zusammen zu arbeiten, die mir wichtig sind. Deren Aufführungen sind 100% wichtig, in der Sekunde, in der es passiert.“).
Irgendwann stand Wolfram Koch wie alle am Scheideweg und ging den Weg des Nomaden, als er sich zum Weggang aus dem Frankfurter Stadttheater entschied, ging in die verrückte Welt von Kruse, Gotscheff, Pucher und wurde zu dem großartigen Schauspieler, der er heute ist. Er hat am Deutschen Theater in Berlin gespielt, an der Volksbühne und im Schillertheater, am Schauspiel Frankfurt, bei mir am Schauspielhaus in Hamburg, am Schauspielhaus Zürich, in Bonn und und und. Folgt seinen Lieblingsregisseuren an die Theater, wo immer die sind. Innerhalb Deutschlands, in die Schweiz, nach Luxemburg, in die Welt. Geht auf Gastspielreisen nach Brasilien, Mexiko, Los Angeles, Kanada, Athen, Paris. Arbeitet mit Stefan Pucher, mit Jan Bosse. Immer wieder mit Dimiter Gotscheff und als der letztes Jahr zu diversen Festivals mit seinen Inszenierungen eingeladen wurde, hieß das für Wolfram Koch: Innerhalb eines Jahres Auftritte in Kanada, Los Angeles, Mexiko, Montenegro, Sarajevo, Belgrad, Zagreb. Wohlgemerkt neben dem normalen Geschäft.
Diese Nicht-Normalität gipfelte 2004 darin, dass er in einer Spielzeit sowohl Shakespeares Othello als auch Jago war. Bei uns in Hamburg hat er damals in Stefan Puchers „Othello“ einen begnadeten Jago gespielt. Im Zuschauerraum stehend umgarnte er das Publikum in einer so fein abgetönten Jovialität, dass alle – aber wirklich alle – ihm gern behilflich gewesen sind bei seinen Intrigen. Eine wahnsinnig beeindruckende Leistung und das neben Alexander Scheer als Othello, der ja auch nicht gerade unscheinbar ist und in dieser Rolle ein Riesenerfolg war. Nicht genug, diese große Rolle in Hamburg zu meistern, spielte er im selben Stück in derselben Spielzeit in der Inszenierung von Jürgen Kruse am DT – Rolle: Othello!
Darauf, dass die Organisation seiner vielen Arbeitstermine so gut klappt, ist er schon stolz. Ein Mal hat er bisher eine Lesung verpasst wegen eines Planungsfehlers, ein Mal ist er eine halbe Stunde zu spät in Bochum eingetroffen wegen eines Selbstmords auf den Gleisen – „ich hatte schon viele Selbstmörder“. Sonst immer alles bestens. Und wann sind Ausruhen und so was Banales wie Schlafen angesagt? Dafür ist die Bahn da! Die Bahnfahrten nennt er seine „gigantische Pause“, eine „Luftblase, in der ich schlafe“ – „Nullzeit“. Die Fahrtzeiten summieren sich auf mehr Zeit als auf der Bühne, mehr Zeit als zuhause… Frankfurt – Berlin 4:20, dort „Die Perser“ 1:50, Berlin – Frankfurt 4:20. Die gut anderthalb Stunden Vorstellung lohnen sich dann aber auch total, meint er. Während sich die Zeiten in der Bahn „wie Weingummi dehnen“ – aus dem Fenster gucken, „ich kenn ja jeden Baum, das Gefängnis links, das Flüsschen rechts…“ – ist die Zeitempfindung im Theater dann ganz anders. Die Zeit vergeht schnell im Theater, beschleunigt sich wahnsinnig, meint er, und doch kann man mit gutem Theater die Zeit festhalten. Aber zurück zur Bahn, ein „Ort, der sich bewegt, der durch die Gegend fährt, in dem man sitzend sich Gedanken über Proben und Aufführungen macht und dabei von A nach B kommt – großartig“. Wichtigste Utensilien dabei: Hoodie (Kapuzenpulli, der „die beste Möglichkeit ist, Dunkelheit um sich herum zu erzeugen“), KLEINES Gepäck („bloß kein Rollkoffer“) und die BahnCard. Jede Reise ist für ihn ein Gefühl von Freiheit, wunderbar, einzusteigen wann und wo man will.
„HAMM überdrüssig: Seid doch still, seid still, laßt mich doch schlafen. Pause. Sprecht leiser. Pause. Wenn ich schlafen könnte! Ich würde vielleicht lieben. In die Wälder gehen. Sehen . . . den Himmel, die Erde! Laufen! Fliehen! Pause. Natur! Pause.“ („Endspiel“). Dieses Problem treibt Wolfram Koch nicht um. Hinsetzen, Kapuze überziehen und „sobald dann irgendwas unter mir wackelt, schlafe ich ein“ – der Zug-Narkoleptiker. Wie oft wurde er schon aus dem Zug geworfen! Nicht wegen ungebührlichen Verhaltens wie Alexander Scheer, der auf der Strecke Berlin-Hamburg mit einer Spielzeugknarre herumfuchtelte, auf offener Strecke den Zug verlassen musste und später dafür groß in die BILDzeitung kam. Nein, Wolfram Koch wird „regelmäßig von freundlichen DB-Mitarbeiterinnen geweckt“ und zum Aussteigen aufgefordert. Grund: Endhaltestelle. Nun steigense mal aus… Meist am Berliner Ostbahnhof, wenn er Hauptbahnhof raus wollte. Wenn´s schlecht gelaufen ist, findet er sich in Mannheim oder Koblenz oder Aschaffenburg wieder, wenn sein Ziel Frankfurt war. Erholungsschläfer im ICE, Tiefschlaf im Sitzen. Und warum lässt er sich nicht wecken? Handy hat er schon dabei, aber bevor er die Weckfunktion einstellen kann, da wackelt´s schon und er ist eingeschlafen… Manchmal hat er auch Glück, wacht gerad noch rechtzeitig auf, springt aus dem Zug – und findet sich in Socken auf dem Bahnsteig wieder… Oder verpasst den Zug, schläft auf harter Metall-Bahnhofsbank ein, „der nächste Zug kommt, ich schrecke auf und falle sofort auf die Fresse, weil beide Beine eingeschlafen sind, rappele mich auf, falle wieder hin und – der Zug fährt ab ohne mich“. Oder die Geschichte mit dem rettenden Applaus: Wolfram Koch spielte den Caliban in Shakespeares „Sturm“ 2000 in Bochum und wollte nach der Vorstellung noch unbedingt den Express Richtung Basel bekommen. „Spielt bitte schneller, Kollegen!“ Das machten die auch, aber dann klatschte das Publikum so lange, dass er nur noch die Rücklichter seines Zuges sah und doch erst am nächsten Morgen aus Bochum wegkam – große Enttäuschung. Bis er erfuhr, dass der Zug entgleist war und es neun Tote in den vorderen Wagen (wo er auch immer sitzt) gegeben hatte… Zu viel Applaus hatte ihn gerettet.
Wenn er endlich am Ziel ist, heißt es: „ Ich hab mich gerade aus dem Zug gepellt, jetzt erstmal ´ne Cola oder´n Kaffee“ – und dann wieder 100% Theater.