„Experiment statt Event?“. Zu „Kunst-Macht-Kulturpolitik“ 2001 in Berlin, Berlin 2002
Beitrag zur Dokumentation des Kongresses „Kunst-Macht-Kulturpolitik“ am 7./8. Juni 2001 in Berlin
Tom Stromberg
Im „Zeitalter der Events“ akzentuiert sich die Rolle der Staatstheater. Ich sehe ihre Aufgabe darin, besonders künstlerische Projekte zu fördern, die wir während dieser Veranstaltung unter dem Label „Experiment“ diskutieren wollen.
Als Intendant eines Staatstheaters steht man immer wieder vor der Entscheidung, wie man mit den Publikumserwartungen umgeht. Im Theater am Turm (TAT) in Frankfurt mit seinen fünfhundert Zuschauerplätzen hat sich für mich in den achtziger und neunziger Jahren als Intendant die Frage anders gestellt als in einem großen Theater mit einer langen Tradition wie dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Das Publikum des TAT und ich sind gemeinsam einen Weg gegangen, auf dem für mich im Lauf meiner langjährigen Tätigkeit klar wurde, welches Publikum immer wieder kommt, was es erwartet und was man von ihm erwarten kann. Das hat man dann „Avantgarde-Theater“ genannt. Einen Spielplan für das Deutsche Schauspielhaus dagegen muss man sehr viel breiter anlegen. Natürlich muss sich ein so großes Haus auch mit den Klassikern auseinandersetzen und bei Jung und Alt beliebte Produktionen wie den Struwwwelpeter im Programm haben. Aber gleichzeitig ist es von besonderer Bedeutung, immer wieder Produktionen zu zeigen, die das Theater voranbringen, die darüber forschen, welche Rolle das Theater in Zukunft übernehmen wird.
Der große Vorteil in Deutschland ist, dass wir mit unserem „Weltkulturerbe subventioniertes Theater“, das man gar nicht genug loben kann, über die finanziellen Mittel für solche Theaterexperimente verfügen. Theater ist schließlich eine zeitgenössische Kunstform und nicht eine Art „Literaturmuseum“.
Die Produktionen zeitgenössischer Künstler sind nicht immer unmittelbar zugänglich für jeden Betrachter – in der Bildenden Kunst ist das längst akzeptiert -, sondern brauchen oftmals Vermittlungsleistungen. Es ist auch für das Theater interessant, neue Instrumentarien der Vermittlung zu entwickeln. Im Deutschen Schauspielhaus haben wir in der vergangenen Spielzeit beispielsweise Ein Sturm des belgischen Regisseurs Jan Lauwers nach Shakespeare aufgeführt und festgestellt, dass manche Zuschauerinnen und Zuschauer erst dafür sensibilisiert werden mussten, dass sie eben nicht Shakespeare´s Sturm sahen.
Natürlich stellt sich da die Frage nach dem Verhältnis von Theatermachern und Publikum. Ich kann nur betonen, dass wir unser Publikum nicht „erziehen“ wollen oder müssen – das finde ich viel zu bevormundend – , dass wir aber schon darauf hoffen, auf ein offenes Publikum zu treffen, das Neuem gegenüber aufgeschlossen ist. Wir sind erst seit einer Spielzeit am Schauspielhaus und setzen darauf, dass sich im Lauf der Zeit die Sehgewohnheiten des Publikums, die ich im übrigen nicht schlecht machen will, verändern werden. So wie die neue Mannschaft am Haus sich kennen gelernt und zueinander gefunden hat, lernt auch das Publikum einen neuen Stil kennen. Aber natürlich bleibt trotz programmatischer und stilistischer Veränderungen der Auftrag des Theaters: Das Publikum über die bloße Unterhaltung hinaus in Anspruch nehmen, irritieren, anregen zu neuen Sichtweisen. Das ist vielleicht nicht immer angenehm, aber ein zentraler Bestandteil der Theateraufgabe. Wir freuen uns über ein neugieriges Publikum, dass sich überraschen lässt und nicht einen Theaterabend erwartet, der voraussehbar ist wie bestimmte Produktionen der amerikanischen Filmindustrie.
Zu Recht wird häufig betont, das Theater habe einen Bildungsauftrag. Genau das ist mir wichtig in einer großen Theaterstadt wie Hamburg: Ein Theater zu machen, das eben nicht bequem ist, das den Zuschauer nicht so schnell wieder los lässt. Ein Theater, das er mitnimmt in seinen Alltag, weil es ihn verunsichert und manchmal auch verärgert hat, weil es – pathetisch gesprochen – einen anderen aus ihm gemacht hat. In einer Großstadt wie Hamburg habe ich als Intendant das Glück, diese Haltung „ausreizen“ zu können, weil sich die verschiedenen Theater in der Stadt „spezialisiert“ haben. Zuschauerinnen und Zuschauer, die einer anderen Theaterästhetik folgen, werden hier von anderen Theatern bedient.
Natürlich ist es von existenzieller Bedeutung, dass die Kulturpolitik der Stadt einen solchen Theaterauftrag mitträgt. Selbstverständlich sollten die Bürger einer Stadt von der Kulturpolitik mehr und anderes erwarten als nur die Rolle des Geldgebers. Kulturpolitiker haben einen großen Gestaltungsspielraum bei der Auswahl und Benennung von hohen Kulturposten. Dieser Einfluss ist nicht zu unterschätzen, ich denke da z. B. an die Situation in Frankfurt, wo Hilmar Hoffmann damals durch seine Entscheidungen Weichen gestellt hat. Die Stadt Frankfurt hat durch seine Benennungen in der Bildenden Kunst, im Tanz und im Theater in den achtziger Jahren eine Form der „Zeitgenossenschaft“ erlangt, die es in dieser Zeit so in keiner anderen Stadt – selbst nicht in Berlin – gegeben hat.
Wir haben in Hamburg das Glück, dass die Kultursenatorin Christina Weiss ihre Aufgabe so versteht, auch mit Benennungen, die nicht immer unumstritten sind, Kulturpolitik zu machen. Als Christina Weiss Ingo Metzmacher für die Hamburger Staatsoper geholt hatte, traf diese Entscheidung nicht auf breite Zustimmung, da Metzmacher ausgewiesener Spezialist für zeitgenössische Musik, aber kein Opernkenner war. Der große Erfolg Metzmachers (wie ja Seiteneinsteiger in den Künsten überhaupt von großer Bedeutung sind) bestätigt noch einmal, dass Christina Weiss´ Risikobereitschaft Früchte trägt. Es bewährt sich, dass sie ihre Entscheidungen kompetent fällt und souverän vertreten kann, schließlich ist sie – anders als manche Kulturpolitiker vor ihr – „vom Fach“. Sie hat vorher u. a. das Literaturhaus in Hamburg geleitet.
In den letzten Jahren sind die engagierten Versuche der Kulturpolitiker und Kulturmacher, breitere Publikumsschichten an Kulturangebote heranzuführen, aus verschiedenen Gründen etwas ermüdet. Ich meine aber, dass das Engagement bei einer Publikumsgruppe auf keinen Fall nachlassen darf: Bei der nachwachsenden Generation von „Kunstnutzern“. Wenn wir Kunstinstitutionen wie die Theater nicht für junge Leute öffnen, besteht die Gefahr, sie für die Kunst auf Dauer zu verlieren. Deshalb hat der Theaterpädagoge am Schauspielhaus ständigen Kontakt zu Schulen und spielt am Haus in der „Backstage“-Gruppe Theater mit Jugendlichen. Deshalb führe ich gerne Publikumsgespräche nach den Vorstellungen, um den persönlichen Kontakt herzustellen. Deshalb ist es uns so wichtig, mit einem veränderten Hauskonzept dem Schauspielhaus ein gewandeltes Image zu geben, das es auch für ein jüngeres Publikum interessant macht. Da gibt es vieles nachzuholen, wenn man bedenkt, dass das Schauspielhaus in den siebziger Jahren mit dem Intendanten Ivan Nagel ein Publikum hatte, das zu mehr als einem Drittel unter 25 Jahre jung war.
Gerade das Schauspielhaus blickt auf eine Vergangenheit zurück, die stark geprägt war durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken, durch zahlreiche Uraufführungen, avantgardistische Theaterformen und ungewöhnliche Experimente. Daran wollen wir anknüpfen.
Dass das nicht immer ganz leicht ist, zeigt sich selbst in Hamburg, das mit „Kampnagel“ und seinen Festivals eigentlich das Publikum „trainiert“ haben sollte. Über viele Jahre hinweg konnten die Hamburger auf „Kampnagel“ alle wichtigen Theatergruppen sehen und sich mit neuen Formen auseinandersetzen. Aber Festivals, das sollte man auch bedenken, ziehen oft ein immer gleiches Publikum an und haben nicht immer die Befruchtungskraft auf die lokale Szene, wie die Macher es einmal erhofft haben. Die Anfangseuphorie, was Festivals angeht, ist sicherlich abgeklungen, trotzdem bleiben sie als produzierende Festivals von großer Bedeutung.
Wenn ich meine Erfahrungen in Frankfurt und Hamburg vergleiche, werden auch die synergetischen Effekte mit benachbarten Kunstformen wie dem Tanz wichtig. Es ist einfach ein Unterschied, ob eine Stadt im Tanz seit zwei Jahrzehnten durch einen Choreografen wie William Forsythe oder durch John Neumeier geprägt wird. Ich will deren Leistungen hier nicht bewerten, es geht mir um die Unterschiede. Das Frankfurter Publikum ist beispielsweise durch die Arbeiten von Forsythe mit einem ungewöhnlichen Umgang mit Fragmenten und Assoziationsmaterialien vertraut. Das merken auch die Theatermacher in der Stadt.
Ein junges, waches Theater in einer Stadt öffnet sich verstärkt dem internationalen Theater. Für Hamburg wünsche ich mir im Zeitalter Europas, dass die internationalen Produktionen im Spielplan des Deutschen Schauspielhauses in Zukunft noch mehr angenommen werden. Ich denke da an die Arbeiten des französischen Choreografen und Regisseur Jérôme Bel in der vergangenen und der kommenden Spielzeit.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns um das Theater als zeitgenössische Kunstform keine Sorgen zu machen brauchen. Die Zahl der Theaterbesucher ist in den Jahren der allgemeinen Computerverbreitung und des rasanten Anstiegs der Internetzugänge konstant geblieben. Je mehr wir uns in den Netzen aufhalten werden, umso mehr wird die Gegenbewegung der Attraktivität der Live-Darbietungen zunehmen.
Das Erlebnis, dabei gewesen zu sein, Kunst im Augenblick ihrer Entstehung gesehen zu haben, ist einmalig und unersetzbar.